Schweiz:Das Bike nimmt den Bus

Ein Postbus mit Fahrradträger fährt durch S-Charl im Kanton Graubuenden in der Schweiz.

Die gelben Postbusse haben am Heck eine Halterung für Fahrräder.

(Foto: Picture-Alliance/KEYSTONE)

In Graubünden können Mountainbiker eine organisierte Tour mit dem Postbus buchen. Ohne Muskelkraft geht es trotzdem nicht.

Von Marco Völklein

Schon bei der ersten Abfahrt kommt man rein in den Biker-Flow, dieses Dahingleiten auf dem Rad, dieses Irgendwie-eins-Sein mit der Natur und dem engen Pfad, dem Trail, auf dem man unterwegs ist. Rechts, links, dann wieder rechts. Die breiten Stollenreifen des Mountainbikes krallen sich in den sandigen Trail; liegen doch einmal dicke Wurzeln oder wuchtige Gesteinsbrocken im Weg, dann federn die Knie die Schläge locker weg. Ein Stückchen weiter unten am Hang sind laute Juchzer zu vernehmen, Freudenrufe von den anderen Radlern, die gerade unterwegs sind über den Pass da Costainas auf dem Weg von Scuol ins Val Müstair. Vorhin hatte man die Kollegen schon in der Mitte des kleinen Bergdorfs S-charl getroffen, alle im winddichten Radlerdress, mit Radrucksack und modernen Bikes, und ebenso gespannt wie man selbst auf die Mountainbike-Tour durch die Schweizer Berge. Nur mit einem Unterschied: Die anderen waren mit eigener Muskelkraft den Berg hinaufgestrampelt. Man selbst kam mit dem Bus, genauer: dem Postauto, wie die Schweizer die gelb lackierten Postbusse nennen.

Drei Tage lang geht es mit dem Mountainbike quer durch Graubünden; die Route über den Pass da Costainas ist erst der Auftakt. Weitere Pässe werden folgen, der Umbrail-, der Bernina- und der Julierpass. Kenner sagen: Es warten einige der schönsten Mountainbike-Strecken der Alpen auf einen. Insgesamt 200 Kilometer Wegstrecke bei 4100 Höhenmetern bergauf und gut 10 000 Höhenmetern bergab. Und das in nur drei Tagen. Um das zu schaffen, braucht man entweder eine ganze Menge Kondition und noch mehr Willenskraft. Oder die Unterstützung der Linienbusse der Schweizer Post. Deshalb nennt sich das Ganze auch "Postauto-Tour".

Die Zahl der Höhenmeter ist gewaltig. Dazu braucht man Kondition. Oder den Bus

Die Busse bringen nicht nur Einheimische und Wanderer seit Jahrzehnten hoch hinauf in die abgelegensten Bergdörfer, sondern auch Mountainbiker samt Equipment. Und so geht es am ersten Tag mit der Linie 913 ins Bergdorf S-charl. Am Bahnhof in Scuol wartet bereits der Bus, am Heck bieten spezielle Halterungen Platz für bis zu fünf Räder. Das Ganze funktioniert simpel: Velo hochstemmen, Vorderrad einhängen - fertig. Das Ticket ist bereits gelöst, ab geht es auf den Berg. Während vorne der Busfahrer vor jeder unübersichtlichen Kurve ein lautes "Tütato" in den Bergwald trötet, den typischen Dreiklangton der Schweizer Postautos, steigt auf den Sitzen hinten die Spannung: Was erwartet einen da oben in den Bergen?

Schweiz: Selbst routinierte Radlfahrer lassen ihr Rad aufladen.

Selbst routinierte Radlfahrer lassen ihr Rad aufladen.

(Foto: picture alliance/KEYSTONE)

Entwickelt hat sich die Fahrradmitnahme in den gelben Bussen über mehrere Jahrzehnte, sagt Benjamin Küchler von der Schweizer Post. Zunächst hatten sich einige Radfahrer mit ihren Velos einfach in den Bus gequetscht, sofern dort noch Platz war. Später dann, als mehr und mehr Mountainbiker hoch hinauswollten und Wintersportorte anfingen, ihre Skipisten im Sommer als Mountainbike-Strecken auszuweisen, liefen bei der Post erste Tests mit verschiedenen Velo-Halterungen, vor allem in Graubünden und im Wallis.

Wo viele Radler zusteigen, koppeln die Fahrer mittlerweile sogar Anhänger an

Mittlerweile, sagt Küchler, sind allein in Graubünden etwa 75 Prozent aller Postauto-Passagiere im Freizeitverkehr unterwegs, bei der vorerst letzten Erhebung im Jahr 2014 wurden fast 26 000 Fahrräder und E-Bikes transportiert. Dennoch empfiehlt Küchler: Wer sein Rad mit dem Postauto auf den Berg schaffen will, der sollte einen Platz vorab reservieren. "Andernfalls muss man seine Reisepläne ändern." Auf einigen Strecken, auf denen erfahrungsgemäß besonders viele Biker zusteigen, koppeln die Fahrer mittlerweile sogar Anhänger an ihre Busse an, die bis zu 20 Zweiräder aufnehmen können.

Genau so ein Hänger fährt an Tag zwei der Postauto-Tour in Santa Maria Val Müstair vor. Vor der Poststation warten bereits die Biker; der Bus bringt sie zum Umbrailpass. Dort wird abgeladen, aufgesessen - und losgestrampelt. Es geht zunächst wellig los, ein gut fahrbarer Singletrail bildet die Basis für den Aufstieg zur Bocchetta di Forcola. Unterwegs geht der Blick immer wieder zurück, das Stilfserjoch und der Ortler mit seinen Gletscherflanken türmen sich hinter einem auf. Wenig später geht es auf einem anspruchsvollen Trail durch das Val da Camp nach unten. Eine kleine Brücke führt über einen Bach, kurz darauf ist ein Stück mit dicken Wurzeln zu meistern, dann eine Engstelle mit Felswänden links und rechts. Die Postauto-Tour abwechslungsreich zu nennen, wäre untertrieben. Das Naturerlebnis ist grandios, der Blick auf die Berge beeindruckend.

Wer aber meint, dank des Postbusses den Berg nicht nach oben kurbeln zu müssen, sondern es einfach nur bergab rollen zu lassen, der liegt falsch. Allein auf der 57 Kilometer langen Etappe des zweiten Tourtages vom Umbrailpass nach Poschiavo stellen sich etwas mehr als 1400 Höhenmeter bergauf in den Weg. Und auch die Abfahrten haben es in sich: Die gut 2900 Höhenmeter, die man allein auf dieser Etappe bergab auf den Pedalen stehend wegzufedern hat, spürt man am Abend in den Oberschenkeln. Dennoch hilft das Postauto. "Der Bus ermöglicht es uns, längere Aufstiege oder Transfers zu überbrücken und damit viel größere Touren zu fahren", sagt Thomas Giger vom Reiseanbieter Herbert-Bike, der die Postauto-Tour entwickelt hat und seit einigen Jahren als Komplettpaket anbietet - mit Hotels, sämtlichen Postauto-Fahrten und Gepäcktransfer. Zumal die Busse ja ohnehin unterwegs sind, da könne man sie auch für den Fahrradtransport nutzen, sagt Giger - wenngleich die vielen Biker so manchen Wanderer mitunter nerven. Und obwohl der Großteil der Reise von Profis organisiert ist, fühlt sich diese Bus-Tour doch oft nach Individualreise an - und sei es nur, weil man nicht nur die Tour durch die Berge, sondern auch den Weg zur nächsten Poststation finden muss.

Schweiz: Die Tour ist 200 Kilometer lang, führt 4100 Höhenmeter bergauf und 10 000 Höhenmeter bergab.

Die Tour ist 200 Kilometer lang, führt 4100 Höhenmeter bergauf und 10 000 Höhenmeter bergab.

(Foto: picture alliance/KEYSTONE)

Nicht verzichten sollte man dabei aber auf ein GPS-Gerät am Lenker, das einen im Gelände bei der Navigation unterstützt. Tourenanbieter Herbert-Bike schickt zwar ein gut zwei Dutzend Seiten dickes Roadbook mit, die darin abgedruckten Karten aber helfen wenig weiter. Wer sich vorab die Touren aufs Navigationsgerät lädt, tut sich im Gelände deutlich leichter - auch wenn die Schweizer viele ihrer MTB-Routen mittlerweile gut ausgeschildert haben.

Zu solch einer zählt zum Beispiel am Beginn des dritten Tags die Abfahrt vom Berninapass hinunter nach Pontresina und St. Moritz. Zunächst bringt einen wieder ein Postauto hinauf auf den Pass, dort glitzert der Lago Bianco, im Hintergrund sind die Gletscherberge des Berninamassivs zu sehen. Ein Singletrail führt bergab bis nach Morteratsch, auch hier stellt sich dieses Flow-Gefühl rasch ein. Am Ende aber, unten in Morteratsch, lohnt sich ein kurzes Innehalten, ein Abstecher in Richtung Gletscher. Dort zeigen Hinweistafeln und alte Fotos, wie sich der Morteratsch-Gletscher in den vergangenen Jahren zurückgezogen hat - seit Beginn der systematischen Beobachtungen im Jahr 1878 hat er gut zwei Kilometer an Länge eingebüßt. Wo einst mächtige Eismassen das Bild bestimmten, ragen heute nur noch schroffe Felswände empor.

Danach ist dann noch einmal Action angesagt. Erneut setzt ein Postauto einen auf einer Höhe von 2200 Metern über dem Meer ab, diesmal auf den Julierpass. Erneut führt eine reizvolle Route zunächst hinauf zum Berghaus Alp Flix auf einer Hochebene, dann geht es rein in die letzten Trails dieser Tour. Noch einmal über Stock und Stein, noch einmal volle Konzentration, noch einmal den Flow genießen. Und für die Heimreise ab Tiefencastel nutzt man erneut ein öffentliches Verkehrsmittel. Diesmal aber nicht das gelbe Postauto, sondern die rot lackierte Rhätische Bahn.

Reiseinformationen

Anreise: Normalerweise mit dem Zug über Lindau nach Chur. Derzeit wird aber auf der Strecke durchs Allgäu gebaut, deshalb empfiehlt sich die Fahrt mit dem Fernbus nach Zürich, dort weiter per Regionalzug nach Chur (www.bahn.de). Dort Umstieg in die Rhätische Bahn nach Scuol-Tarasp, aber auch dort ist die Strecke aktuell wegen Bauarbeiten gesperrt, es fahren Ersatzbusse (www.rhb.ch).

Reisearrangement: Die dreitägige Postauto-Tour mit Übernachtungen, Gepäcktransfer und sämtlichen Bus-Tickets kostet ab 757 Franken (umgerechnet ca. 680 Euro), die Vier-Tages-Tour ab 987 Franken (ca. 883 Euro). Weitere Informationen unter www.herbert.bike/de/angebote/postauto-tour

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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