Ein Aufsatz:Die Unterversorgten

Im Juniheft des "Merkur" kritisiert der Philosoph Gunnar Hindrichs die Lobredner des Zorns, des "Thymos". Wer, wie der AfD-Politiker Jongen, zum Zorn aufruft, will eine Gesellschaft verfeindeter Individuen.

Von Jens Bisky

Die Bundesrepublik sei arm an Wut und Zorn, sie leide, sagte der AfD-Politiker Marc Jongen im Januar 2016 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, an einer "thymotischen Unterversorgung"; besser wäre, es würde rauer, aufgepeitschter zugehen. Der Rechtsruck-Aktivist Götz Kubitschek griff das Stichwort beflissen auf und verband es mit der beliebten Behauptung von der "Entmännlichung unseres Volkes". Man erinnert sich an Björn Höckes Diskant-Klage, wir hätten "unsere Männlichkeit verloren". Der Wunsch nach Rebellion und Stärke nutzt einen Begriff der antiken Seelenlehre und verbindet ihn mit der Technokratenfloskel "Unterversorgung". Diese Mischung charakterisiert den Stil der deutschen Rechtspopulisten, das Ineinander von Abendlandgetue und Bürokratenslang.

Was meint "Thymos"? Das "Historische Wörterbuch der Philosophie" hebt aus der langen Geschichte des Wortgebrauchs zwei Bedeutungen hervor: erstens den "leidenschaftlich-zornigen Affekt ('Wut', 'Jähzorn')"; zweitens die "Bereitschaft und Entschlossenheit zum Kampf (Beherztheit, Mut)". Die jüngste Karriere des Wortes in der deutschen Öffentlichkeit begann mit Peter Sloterdijks Buch "Zorn und Zeit", das 2006 erschien und, beginnend mit dem Zorn des Achill und der Ilias, einen Vorschlag politisch-psychologischer Geschichtsdeutung unterbreitete. Marc Jongen war bekanntlich Sloterdijk-Schüler, das Denken des bewunderten Lehrers prägt ihn, auch wenn dieser sich inzwischen deutlich von AfD und neurechter Ressentimentkultur distanziert hat.

Im Juniheft des Merkur, der Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, kritisiert der in Basel lehrende Philosoph Gunnar Hindrichs die Formel von der "thymotischen Unterversorgung" (Merkur, Heft 841, Juni 2019), die seit einigen Jahren bemüht wird, um allerlei lautstarke Willensbekundungen, sei es gegen Flüchtlinge, sei es gegen die Presse, zu erklären. Er fasst die Argumente aus "Zorn und Zeit" zusammen, stellt sie in ihren geistesgeschichtlichen Kontext, erinnert an die tradierten Motive der Kulturkritik. Vor allem aber zeigt er, dass die griechische Seelenlehre zwar in Anspruch genommen, aber um Entscheidendes verkürzt wird.

Der Thymos zerbreche das "tote Gehäuse aus Logos und Eros"

Platon unterschied "einen vernünftigen, einen begehrenden sowie einen mut- und zornartigen Seelenanteil". Dies aufgreifend, verstehe Sloterdijk die "kulturellen Widersprüche des Kapitalismus als eine seelische Schieflage". Wir lebten "in einem Gehäuse aus Logos und Eros, Rationalität und Begehren, Berechenbarkeit und Kreativität", gefangen zwischen "Verfahrensmäßigkeit und geistlosem Sich-Ausleben". In dieser Lage stifte der Thymos, "die Sphäre aus Zorn, Mut und Tatkraft" Sinn, freilich einen Sinn ohne jede Transzendenz, ohne Bezug auf ein Jenseits.

Der Thymos zerbreche das "tote Gehäuse aus Logos und Eros", zornig stelle er sich in kontingente Situationen und stehe diese durch. Das "Unbehagen an der logisch-erotischen Gegenwart" werde im "Bild des Fremden" zusammengefasst, in dem "Rationalität und Begehren" verschmelzen: "Der Fremde wird von einer ökonomischen und politischen Maschinerie ins Land gebracht und geht hier seinen Wünschen schamlos nach."

Die drei Seelenfaktoren gegeneinander auszuspielen, ist eine folgenreiche Umdeutung.

Hindrichs erinnert daran, dass die Ilias den Zorn des Achill als Problem schildert, was Sloterdijk vernachlässigt. Auch seinen anderen Hauptzeugen für die Seelenlehre verkürzt er. Für Platon besaßen die Seelenteile "keine Eigenbestimmtheit". Vorgängig ist "die selbstbezügliche Einheit der Seele", Vorrang hat das Selbstverhältnis. Die geistige Anlage des Menschen, die es erlaubt, sich dem Wahren zuzuwenden, bestimmt "die Verfassung der geeinten Seele". Die drei Seelenfaktoren gegeneinander auszuspielen, als seien sie Teufelchen, die sich auf Gedeih und Verderb bekriegen, ist eine folgenreiche Umdeutung. Sie setzt an die "Stelle der geistigen Offenheit für das Immerseiende und Wahre die zornige Vehemenz des Hier- und Jetztseienden".

Das Thymos-Gerede lässt in Verruf geratene Gemeinplätze der Kulturkritik wieder bürgerlich klingen. Die aus der Zeit vor 1914 bekannte Feier des gefährlichen Lebens, die Wut über sinnlos scheinendes, immer bloß rechnendes Draufloswirtschaften und erotisch-hedonistische Verweichlichung wird so akzeptabel für unsere Gegenwart, in der, wie Hindrichs kühl anmerkt, doch immer noch nur wenige "wirklich vom Fronterlebnis träumen". In dieser Lage erlaube es die Thymos-Formel, das Losschlagen für zivil zu erklären: "Die Bemühung des Thymos bemüht den Bürger, der das Gemeinwesen zerstört." Er ist mit sich selber verfeindet und mag sich ein gelingendes politisches Miteinander nicht mehr vorstellen.

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