Demonstrationen in Hongkong:Aufstehen für die letzten Freiheiten

FILE PHOTO: Protesters dressed as Chinese police during a protest to demand authorities scrap a proposed extradition bill with China, in Hong Kong

Als chinesische Polizisten verkleidet fordern Demonstranten in Hongkong, das Auslieferungsabkommen mit Peking nicht zu unterschreiben.

(Foto: Tyrone Siu/Reuters)

In Hongkong wächst der Protest gegen einen Auslieferungsvertrag mit Peking - und Berlin ist zwischen die Fronten geraten.

Von Lea Deuber und Jacqueline Lang, Hongkong/Berlin

Die Kamerateams müssen auf Abstand gehalten werden. Nur so schaffen die beiden Männer es in den Fahrstuhl. Die Türen schließen. Sie atmen auf, lächeln zum ersten Mal an diesem Abend in Berlin. Für heute haben es Ray Wong und Alan Li geschafft. Sie sind keine Popstars oder Schauspieler. Die Studenten sind vielmehr die ersten bekannt gewordenen Fälle, in denen ein europäisches Land demokratischen Aktivisten, die aus Hongkong geflohen sind, Schutz vor politischer Verfolgung gewährt hat.

Vor der Rückgabe Hongkongs hatte China der ehemaligen britischen Kronkolonie das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" bis 2047 zugesichert. Das heißt, ein rechtsstaatliches Hongkong, in dem etwa Meinungs- und Pressefreiheit garantiert sind. Doch die Autonomie der Finanzmetropole steht unter Druck. Das Auswärtige Amt in Berlin spricht von einem "zunehmend schwindenden Raum für die politische Opposition und einer schleichenden Erosion der Meinungs- und Pressefreiheit".

Dass zwei Hongkonger Studenten als Flüchtlinge anerkannt wurden, kompliziert die Lage

Die Anspannung in der Sonderverwaltungszone ist so hoch wie seit der Regenschirm-Bewegung vor fünf Jahren nicht mehr. Damals hatten Hunderttausende Studenten die Innenstadt besetzt, um für mehr demokratische Rechte zu demonstrieren. Der aktuelle Streit, der in den vergangenen Wochen hochgekocht ist, entzündet sich an einem Auslieferungsabkommen. Es geht um die Frage, ob Hongkong seine Bewohner auch an Festland-China ausliefern soll, wo es bis heute kein unabhängiges Rechtssystem gibt. Der Widerstand gegen das Gesetz ist gewaltig. Ende April demonstrierten Zehntausende Menschen gegen die Pläne der Regierung. Viele fordern einen Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam, die unter dem Druck Pekings den Entwurf unbedingt durchbringen will. Am Wochenende werden erneut Hunderttausende zu einer Demo erwartet. Glaubt man Li und Wong, ist das Abkommen zumindest einer der Gründe, warum sie nun in Göttingen leben. 2017 kamen sie nach Deutschland, seit Mai 2018 haben sie offiziell den Flüchtlingsstatus. Die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Wong und Li den Status von politischen Flüchtlingen zu gewähren, hat die Bundesrepublik inmitten dieser Fronten katapultiert.

Nach Bekanntwerden des Falls protestierten tagelang prochinesische Demonstranten vor dem deutschen Generalkonsulat in Hongkong. Dort war man völlig unvorbereitet. Während sein Chef im Urlaub weilte, wurde der deutsche Vizekonsul David Schmidt zu einem Gespräch mit der Regierungschefin einberufen. Das chinesische Außenministerium sprach von einer "Einmischung in innere Angelegenheiten".

Anscheinend hatte es niemand im Bamf bei der Bearbeitung des Falls im vergangenen Jahr für nötig befunden, eine Einschätzung zur Lage in der Stadt einzuholen. Auch in der deutschen Botschaft in Peking wusste niemand von dem Vorgang. In Hongkong spielt das sowieso keine Rolle. Dort geht es vor allem um das politische Signal, das die deutsche Entscheidung sendet.

Das ist es auch, vorüber sich Regina Ip ärgert. Die 68-jährige Abgeordnete sitzt Anfang Juni in ihrem Büro mit Blick über den Hongkonger Hafen und blättert durch das Auslieferungsabkommen, das Berlin mit der Stadtregierung geschlossen hat. "Die Kritik am Gesetz ist nicht viel mehr als eine Angst- und Schmutzkampagne", schimpft die Vorsitzende der prochinesischen und konservativen Neuen Volkspartei. Der Gesetzesentwurf umfasse klare und rechtsstaatliche Vorschriften, die mögliche Auslieferungen an China regeln würden, sagt Ip, wobei sie nicht das Wort China benutzt, sondern meist vom "Heimatland" spricht. Li und Wong seien politische Dissidenten, aber die Vorwürfe richteten sich gegen ihre Teilnahme an den gewaltsamen Protesten 2016 in einem Hongkonger Stadtteil. "Dass Deutschland beide als Flüchtlinge anerkennt, bedeutet, dass die Bundesregierung dem Hongkonger Rechtssystem nicht mehr traut", sagt Ip. Sie fordert deshalb, dass Berlin die Entscheidung zurücknimmt - und die beiden jungen Männer ausliefert.

Nicht alle demokratischen Aktivisten schätzen die Linie der Geflüchteten

Auch in Hongkong ist nicht jeder begeistert von den Auftritten. Li und Wong gehörten zu der Gruppe "Hong Kong Indigenous". Sie setzt sich gegen den wachsenden Einfluss Chinas in der Stadt zur Wehr, fordert aber zudem auch die Unabhängigkeit der chinesischen Sonderverwaltungszone. Präsident Xi Jinping hat das immer wieder als "rote Linie" bezeichnet. Das Verbrechen der Aktivisten ist zunächst einmal, anderer Meinung zu sein als Peking. Allerdings hält auch ein Großteil der pro-demokratischen Kräfte die Forderung nach Unabhängigkeit für unrealistisch. Sie wollen lieber die Freiheiten retten, die sie noch haben, anstatt die Zentralregierung in Peking unnötig zu provozieren. Mittlerweile fordert offenbar auch Mitbegründer Wong nicht mehr die Unabhängigkeit Hongkongs. Zumindest sagt er das, nun da er im weit entfernten Deutschland sitzt.

Einige fragen sich, warum Li und Wong nicht einfach eine Arbeitserlaubnis in Deutschland beantragt haben. Das seien doch keine Flüchtlinge, ärgert sich ein pro-demokratischer Aktivist. Das politische Signal aus Deutschland sei zwar wichtig, aber im Fall von Li und Wong falsch. Und ganz unrecht haben Kritiker wie Ip nicht: Li und Wong waren an den Straßenschlachten vor drei Jahren beteiligt, bei denen mehr als 100 Menschen verletzt wurden. Viele verstehen sie als Radikale. Sie kamen 2017 nur auf Kaution frei, bevor sie sich absetzten.

Politikerin Ip hat aber unfreiwillig auch in einem anderen Punkt recht: Das Vertrauen in Hongkongs Rechtssystem schwindet. Viele prodemokratische Aktivisten sind wegen Beteiligung an den Demonstrationen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, die unabhängige Beobachter unverhältnismäßig nennen. Der Abgeordnete James To von der Demokratischen Partei warnt, das neue Abkommen könnte dazu führen, dass Aktivisten unter Vorwänden nach China ausgeliefert werden. Und ausländische Wirtschaftsverbände fürchten, dass die Stadt ihre Position als internationales Finanzzentrum verliert. Noch ist die Rechtsstaatlichkeit ein Standortvorteil Hongkongs gegenüber dem Festland.

In ihrer Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Mai, die der SZ vorliegt, spricht die Bundesregierung bei dem geplanten Gesetz von einer "weiteren Einschränkung der politischen Freiheiten und der Rechtssicherheit" in der Sonderverwaltungszone. Das gelte auch für in Hongkong lebende und reisende Bürger aus der EU. Laut ihrer Antwort plant die Bundesregierung nun, das neue Abkommen ebenfalls prüfen zu wollen.

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