Kunst:Die Hand des Vieldenkers

Zwei großartige Ausstellungen in London zeigen, wie Leonardo da Vinci in seinen Zeichnungen und Manuskripten Kunst und Wissenschaft in Bewegung brachte.

Von Kia Vahland

Er wollte viel, manchmal zu viel, aber er wusste, was er tat. Präzise zog seine linke Hand die Feder über das aus Lumpen gepresste Papier, setzte Buchstabe um Buchstabe in minutiöser Spiegelschrift, sparte Weißraum aus für die Grafiken und Geometrien, korrigierte sich selten. Leonardo da Vinci formulierte nach Gehör in volgare, dem in seiner Zeit noch nicht ausgeprägten Italienisch. Welch eine Transkriptions- und Übersetzungsleistung im 20. Jahrhundert Forschern wie Jean-Paul und Irma Richter gelang, lässt sich erst ermessen, wenn man vor den zarten, dicht beschriebenen Manuskriptseiten steht. Die British Library zeigt gleich zwei der wichtigsten Konvolute Leonardos, den Kodex Arundel aus eigenem Bestand und den Kodex Leicester aus der Sammlung von Bill Gates. Zu sehen ist auch eines der kleinen Notizbücher, die der Künstler am Gürtel trug, um unterwegs Gedanken und Eindrücke festzuhalten. Parallel zu der Bibliotheksausstellung präsentiert die Queen in ihrer Galerie am Buckingham Palace ihre Schätze. Über 200 Zeichnungen Leonardos sind hier zu sehen; so gründlich wie nun in London ließ sich der Universalmeister in den vergangenen 65 Jahren nicht studieren.

Er selbst freilich trennte nicht zwischen zeichnerischem und schriftlichem Werk; auch die Blätter im Besitz der Königin sind zum Teil beschrieben. Seine Überlegungen, das zeigen die Ausstellungen, mäanderten auf produktive Weise; jede Trennung der Papiere in Wissensgebiete wie Anatomie, Naturkunde, Kunsttheorie und Mechanik engt den Blick auf das Œuvre dieses Vieldenkers nur ein. Vielmehr zieht Leonardo Erkenntnisse der Optik und Wasserkunde heran, um den Mond zu erklären - er versteht, dass dieser nicht selbst strahlt, deutet seine Unebenheiten aber als Gewässer. Oder er seziert menschliche Schädel, um den Sitz der Seele auszumachen, der seiner Ansicht nach an den Sehnerv gekoppelt sein muss. Dann wieder zeigt er zwei Männer auf einer Wippe, um die Schwerkraft zu demonstrieren - ihm fällt auf, dass auch die Elemente Erde und Wasser nach unten streben, so kein Widerstand sie aufhält, Feuer und Luft dagegen nach oben. Blutbahnen erinnern ihn an Flüsse und Wasseradern, Kirchenkuppeln an Köpfe, Locken an Wellen.

Je älter Leonardo wird, desto demütiger nähert er sich den Naturgewalten

Am Ende ist der gemeinsame Nenner von allem Gottgeschaffenen die Fähigkeit zur Bewegung und Veränderung. Sie ist das große Faszinosum, um das Leonardo als Künstler und Wissenschaftler zeitlebens kreist. Als er schließlich nicht nur Schädel, sondern neben toten Kühen und Schweinen auch menschliche Leichen seziert, interessieren ihn besonders die Muskelstränge, dann auch die Mechanismen des Herzens, die das Blut am Laufen halten. Aus heutiger Sicht sind seine Zeichnungen nicht naturgetreu (schon weil er seine Ergebnisse aus den Tier- und Menschenstudien vermengt), aber sein Vorgehen war um einiges realistischer, ergebnisoffener als das der Ärzte seiner Zeit, die allein der antiken Überlieferung vertrauten.

Die "Erfahrung" sei seine einzige Lehrmeisterin, tönte Leonardo gerne, wenn er sich wieder einmal über die Arroganz und das Unverständnis der Studierten ärgerte. Ganz so war es nicht. Leonardo genoss zwar als unehelicher Sohn eines Notars und einer armen Frau keine höhere Schulbildung, besaß als etablierter Künstler dann aber eine stetig wachsende Bibliothek, brachte sich selbst Latein bei und achtete sehr wohl das überlieferte Wissen. Nur begnügte er sich nicht damit und fragte immer weiter, wie die Dinge denn wirklich zusammenhängen.

Dieses Zweifeln und Suchen lässt sich in den Schauen wunderbar nachvollziehen. Formt bei der Zeugung wirklich nur der Samen des Mannes die Seele des ungeborenen Kindes oder hat auch die werdende Mutter ihren Anteil? Wie kamen die Muscheln in die Alpen, wo sie sich nun als unversehrte Fossilien finden, obwohl doch die Wucht der Sintflut sie zerschlagen haben sollte? Was bringt das Wasser zum Fließen, wie lernt ein Kleinkind das Laufen und wie geht ein Bär? Wie sieht die Erde im Querschnitt aus und wie ein Penis?

So wie Leonardo der Bewegung huldigt, so verbleibt auch sein Denken und Zeichnen nie auf einem Fleck. Ohne je hektisch zu werden, experimentiert er mit Materialien, arbeitet erst mit dem zart über das Papier kratzenden Metallstift, dann mit Federstrichen, schließlich mit verschieden farbigen Kreiden, die ihm sanfte Schattierungen ermöglichen. Kein Strich scheint zufällig. Einmal, auf einem Blatt in der British Library, philosophiert Leonardo darüber, wie aus einem Punkt, der doch nulla, nichts sei, eine vieldeutige Linie wird, wenn die Hand zielsicher den Stift führt.

Seine Hand erkundet und erfindet, sie imaginiert einen Bombenhagel, der Festungsmauern überwinden soll und einen Tauchapparat, der den Menschen angeblich die Welt unter Wasser vor Augen führen kann (tatsächlich würde ersticken, wer das Gerät nach diesem Entwurf baut und ausprobiert). Sie plant mal eben, den Arno umzuleiten (noch ein unmögliches Projekt) und widmet sich dann wieder detailgetreu den Fettpölsterchen von stolpernden Kleinkindern und der Nackenlinie einer sich drehenden, beinahe tanzenden Frau.

Bei aller Vielfalt lassen sich Leidenschaften ausmachen. Vor allem das Wasser gerät Leonardo zur Obsession. Erst widmet er sich Wassermühlen, Wasserfällen, dem Kullern der Wellen. Voller Respekt betrachtet er die fluide Kraft, meint, sie bändigen, lenken, nutzen zu können. Je älter er aber wird, desto demütiger wird seine Haltung gegenüber den Naturgewalten. In Frankreich, wo er ab 1517 König Franz I. dient, zeichnet Leonardo einerseits lustige Kostüme für die Feste seines Herren, andererseits den Weltuntergang. Eine Serie düstrer Kreideskizzen zeigt, wie wüst es dabei zugehen wird, glaubt man Leonardo. Ein regnerischer Sturm wirbelt Himmel, und Erde auf, Berge brechen ein, Bäume werden entwurzelt, Städte stürzen zusammen. Die Bewegung ist der Motor erst allen Lebens, dann des großen Sterbens.

So ist es bislang nicht gekommen, ein halbes Jahrtausend nach Leonardos Tod am 2. Mai 1519 existiert die Welt noch und auch viele seiner Kunstwerke haben überlebt. Diejenigen im Besitz der Queen stammen aus guter Quelle, sie gelangten schon im 17. Jahrhundert nach England. Zuvor gehörten sie dem Bildhauer Pompeo Leoni, der sie dem Sohn von Leonardos Sekretär Francesco Melzi abgekauft hat.

Trotzdem wird nicht nur Leonardo an die Blätter Hand angelegt haben, sondern an der einen oder anderen Stelle auch seine Schüler, die schließlich etwas lernen sollten. Amüsanterweise räumt das Museum eine mögliche Werkstattbeteiligung ausgerechnet bei einer der beiden Skizzen ein, die Leonardos Autorschaft an dem 450,3 Millionen Dollar schweren Christusgemälde "Salvator Mundi" belegen sollen. Tatsächlich sind diese in Kreide hingeworfenen Gewandstudien ausgesprochen ungelenk, und der Komposition des Gemäldes ähneln sie auch nur bedingt. Damit gerät eines der letzten Argumente ins Wanken, die noch für Leonardo als Urheber des Christusbildes sprachen. Laut dem Branchenblatt Artnet könnte der "Salvator Mundi" sich inzwischen auf der Luxusjacht "Serene" des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman befinden. Ungewiss bleibt, ob die Tafel im Todesjahr des Künstlers wieder auftauchen wird. Sie müsste sich etwa in der kommenden Louvre-Ausstellung im Herbst harter Konkurrenz stellen und würde so wohl endgültig ihren Nimbus verlieren.

Schon die Londoner Ausstellungen zeigen: Eine so statische Figur wie der "Salvator" passt nicht in das Gesamtkonzept dieses Künstlers. Man schaue sich nur die Studien für sein Mailänder "Abendmahl" an. Da wird nichts verkündet, nicht gesegnet, auch nicht still gebetet. Die "Regungen der Seele", wie Leonardo es Malern empfahl, drücken sich in den "Regungen der Körper" aus. Judas greift nach dem Brot Christi, Johannes schläft, andere Jünger reagieren aufgewühlt ob der Nachricht, einer von ihnen werde Jesus verraten.

Leonardo lebte in einer Epoche des Umbruchs. Bürger, Kaufleute, Bankiers, einige Handwerker gewannen an ökonomischem, manchmal auch politischem Einfluss. Die Kirche verlor ihren Status als Autorität und die Bibel als einzige Wissensquelle. Technik und Forschung entwickelten sich rasant (mit so positiven Nebeneffekten für den Künstler wie sinkenden Papierpreisen). Leonardos Kunst und Wissenschaft der Bewegung ist so gesehen auf der Höhe seiner und auch unserer Zeit: Sie lehrt, mit Veränderungen umzugehen.

Leonardo da Vinci: A life in drawing, The Queen's Gallery, Buckingham Palace, London, bis 13. Oktober, www.rct.uk.

Leonardo da Vinci. A mind in Motion, British Library, London, bis 8. September, www.bl.uk.

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