Sozialgeschichte:Der lange Abschied vom Malocher

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Ein Bergmann auf der Zeche Prosper Haniel, die 2018 geschlossen wurde. (Foto: dpa)
  • Der "Arbeiter" schien lange Zeit eine sozialgeschichtlich überholte Figur zu sein.
  • In seinem verdienstvollen Buch "Jenseits von Kohle und Stahl" entwirft Lutz Raphael nun die vergleichende Geschichte der Industriearbeit in den letzten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Von Gustav Seibt

Seit Trump, dem Brexit, der populistischen Welle ist eine vergessene soziale Figur zu neuer Aufmerksamkeit gekommen, wenn auch meist als Gestalt der Vergangenheit: der Industriearbeiter. Der weiße, fast immer männliche, überwiegend un- und angelernte "Malocher", der seine Körperkraft und wenige Basisqualifikationen auf den Markt bringt, blieb zuletzt, so heißt es, ohne politische Vertretung und gesellschaftliche Anerkennung, sprachlos im Kampf der gesellschaftlichen Minderheiten und "Identitäten", am Rand einer globalisierten, kosmopolitischen Bühne. Daher sei er zu den Rechten abgewandert, die ihm das Nationale als Soziales versprachen, überkommene Rollenmuster, Rückkehr zu souveräner Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Die nicht zuletzt literarische Rückkehr in den viel gelesenen autobiografischen Memoires von J. D. Vance, Didier Eribon und Édouard Louis zeigt, welche Lücke der Wahrnehmung zuvor bestanden hatte. Der "Arbeiter" schien nicht nur sozialgeschichtlich eine überholte Figur zu sein, vor allem war er in der kulturellen Repräsentation unsichtbar geworden. Überall in Europa und Amerika wurden seit den späten Siebzigerjahren große Industriebetriebe stillgelegt, der Verlust an Arbeitsplätzen in den alten Kernbranchen von Kohle und Stahl belief sich auf viele Millionen, ganze Regionen verödeten im "Strukturwandel". Neue Technologien, vor allem eine neue globale Arbeitsteilung machten der klassischen Fabrik mit ihren durchgetakteten, gestückelten Arbeitsabläufen, die auch Ungelernten ihren auskömmlichen Platz im Kollektiv sicherten, weithin den Garaus. Dauerarbeitslosigkeit wurde ein Massenschicksal, aber da sie aus Rückständigkeit zu kommen schien, hielt sich die Anteilnahme an diesem sozialhistorischen Großprozess in Grenzen. Zum Schaden neuer Prekarität kam die Geringschätzung.

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Es ist eine wichtige Pointe der großen, gewaltig materialreichen Darstellung von Lutz Raphael, dass sie den beiden Seiten dieses Prozesses, dem materiellen Ablauf und seiner gesellschaftlichen Repräsentation, gleiche Aufmerksamkeit schenkt. Raphael schreibt insofern wirklich eine "Gesellschaftsgeschichte", wenn auch keine umfassende. Sein Thema ist die vergleichende Geschichte der Industriearbeit in den letzten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die übrige gesellschaftliche Umgebung - Bildungswesen, neue Berufe, Individualisierung, Globalisierung - kommt nur so weit in den Blick, als sie für das Kernthema von Bedeutung ist.

Man redete von Risiko-, Wissens-, Erlebnisgesellschaft, aber der Arbeiter kam nicht mehr vor

Raphael setzt in dem Moment ein, in dem die fast drei Jahrzehnte des Nachkriegsbooms seit 1948 ihr abruptes Ende fanden, in den Krisen der Siebzigerjahre. Bis dahin hatten hohe Wachstumsraten und eine vom Konsum am Laufen gehaltene Wirtschaft eine historisch einzigartige Formation ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe hervorgebracht. Raphael nennt sie mit den Worten eines späten EU-Berichts "Sozialbürgerschaft".

Dazu zählen Streikrechte und Tarifverträge, Arbeitsgerichtsbarkeit, Lohnuntergrenzen, individuelle Schutzrechte (zu denen später Diskriminierungsverbote kamen), betriebliche Mitbestimmung und natürlich die Versicherungsleistungen des Sozialstaats. Für diese Sozialbürgerschaft standen Gewerkschaften und politische Parteien ein, sie war jedenfalls auf dem Kontinent in Gesetzesform gegossen; soziale und politische Teilhabe gingen in stabilen, auch regional verankerten Milieus Hand in Hand. Hier wurde bürgerliches Gleichheitsversprechen als soziale Teilhabe materiell in historisch einzigartiger Weise Wirklichkeit.

All das geriet seit dem Ölschock von 1974 immer tiefer in die Krise, weil die Grundlage des Systems, nämlich Vollbeschäftigung, langfristig verloren ging. Raphael zeigt die darauffolgenden Anpassungen in den drei Ländern mit allen ihren Unterschieden detailreich auf - Schocktherapie in England, langsames Reformieren auf dem Kontinent. Und hier kommt der Überbau ins Spiel: Was immer noch als Klassenkonflikt hätte begriffen werden können, wurde zumal in Deutschland hinter allgemeinen Zeitdiagnosen immer unsichtbarer. Die angeblich "postindustrielle Gesellschaft" wurde unter allen möglichen Begriffen gefasst (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Wissensgesellschaft, Individualisierung, lebenslanges Lernen), nur der Arbeiter kam nicht mehr vor - er magerte semantisch ab wie Volker Brauns "Vier Werkzeugmacher", die Raphael leider nicht zitiert. Da seine Darstellung allerdings die Gebiete der DDR seit 1990 um der Vergleichbarkeit willen ausspart, musste er auf diese großartige Allegorie auch nicht unbedingt zurückgreifen.

Im deutschen Sonderfall kommt noch eine soziale Sprache hinzu, die Klassenlagen systematisch camoufliert, indem sie nur von "Arbeitnehmern, Angestellten und Beamten" spricht, also weder einer "working class" noch "classes populaires" kennt. Schon Gesetzgebung und Statistik legten also einen Wahrnehmungsvorhang vor eine Wirklichkeit, die bald nur noch mehr oder weniger Qualifizierte kannte.

Parallel füllten sich die sozialdemokratischen Parteien mit Lehrern, Beamten und anderen Akademikern, die klassische Arbeiterbewegung verlor zunehmend ihre Gesichter. Auch hier gibt es eine subtile Pointe: Zu Beginn der von Raphael behandelten Zeit versah der nostalgische Marxismus der Studentenbewegung die Beschreibung der Wirklichkeit noch mit historischer Klassenkampfpatina, umso schneller wurde sie dann auch wieder abgewischt, zugunsten schickerer Deutungsmuster. Hätte Raphael Italien einbezogen, dann hätte er noch schönere Beispiele für solchen linken Retro finden können, mit Ausstrahlung in ganz Europa.

Unterdessen schritten Globalisierung (das Wort verwendet Raphael sparsam) und Finanzialisierung (also die Verwandlung von Unternehmen in Aktiengesellschaften) voran, die sich mit der Digitalisierung verbündeten. Dabei veränderte sich der Charakter der Arbeit in allen Bezügen. Sie wurde anspruchsvoller, kostbarer, dichter getaktet, flexibler, permanenten Produktivitätssteigerungen ausgesetzt. Ausbildung - in Frankreich vorwiegend staatlich, in Deutschland "dual", also betrieblich gestützt, in England vorwiegend betrieblich - wurde zu einem großen Thema, auch dieses nicht geeignet, den Klassenkonflikt in den Fokus zu rücken; schließlich kam es auf Ertüchtigung aller Einzelnen an.

Mit seiner Kultur des Ausgleichs steht Deutschland gar nicht so schlecht da

Dabei ging das arbeitsbasierte Sozialmodell zunehmend in die Brüche. Auch alte Rollenmuster, etwa der männliche Hauptverdiener, gerieten in die Krise. Gelegentlich ist davon die Rede, dass der Umbruch im Ostblock seit 1990 Erfahrungswissen und Rollenmodelle radikal entwertete. Auf kaum weniger dramatische Weise galt dies seit den Achtzigerjahren auch für den Westen. Kränkungen blieben umso tiefer sitzen, als sie kaum zur Sprache kommen konnten. Wenn Arbeitsämter zu Jobcentern werden und Arbeitslose zu Kunden, dann legt sich der meritokratische Schleier - "jeder ist seines Glückes Schmied" - über die Szenerien des Strukturwandels. Ein probates, aber teures Mittel, solche Dissonanzen auszugleichen und dabei auch stumm zu schalten, wurden Sozialpläne und Frühverrentungen.

Doch zeigt Raphael auch hier, dass das Bild gemischter ist, wie man überhaupt sagen muss: Selten nur kann man ein Buch finden, das so viel Wirklichkeit, die vor der Nase liegt, bewusst macht. Denn allen ideologischen Aufrufen zur Selbstermächtigung zum Trotz funktionieren zumal in Deutschland kooperative Arbeitsmodelle, "Bündnisse für Arbeit", betriebsbezogene Regelungen erstaunlich gut. Wenn vom Riesensprung in der Produktivität durch die Digitalisierung die Rede ist, dann sollte vielleicht der Vorteil der Mitbestimmung bei den Prozessen des Umbruchs an gleicher Stelle genannt werden. Flexibilität gelingt in Kollektiven weit besser als bei Individuen.

Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 526 Seiten, 32 Euro. (Foto: N/A)

Bis in die Veränderung von Wohnquartieren, Großsiedlungen und Banlieues, und bis zu betrieblichen Sozialordnungen verfolgt Raphael sein Thema. Eine Reihe exemplarischer Arbeitsbiografien, in der auch Frauen und Migranten ihre Auftritte bekommen, Schilderungen von großen Arbeitskämpfen - etwa des Konflikts um Rheinhausen - erlauben jedenfalls dem Leser in etwas höheren Jahren an eigene Erinnerungen anzuknüpfen. Trotzdem kann man das äußerst verdienstvolle Buch nicht bedingungslos loben. Es ist überfrachtet mit Zahlen im fortlaufenden Text (gewiss mehrere Hundert), seine Vergleiche und Differenzierungen sind für den nicht fachlichen Leser zu kleinteilig, die dagegen aufgebotenen Zusammenfassungen sind zu abstrakt. Auch bleibt der Blick in die anderen sozialen Welten zu summarisch. An sozialhistorische Prosakünstler wie Adam Tooze oder Philipp Ther darf man nicht denken.

Für den zeitdiagnostisch interessierten Leser bleibt als wichtigstes Resultat, dass die Vorgeschichte der Gegenwart nicht erst 1989 beginnt, das ist eine deutsche und osteuropäische Perspektive, die Lutz Raphaels Vergleich mit den westlichen Nachbarn überzeugend relativiert. Auch hier erweist sich das Jahr 1979, als Margaret Thatcher antrat und den wirtschaftspolitischen Startschuss für die Party der Achtziger gab, als überzeugendere Epochenschwelle.

Deutschland steht mit seiner Kultur des Ausgleichs, der findigen Anpassung im Kleinen bei strukturkonservativer Entschleunigung im Großen übrigens gar nicht so schlecht da - in seinem westlichen Teil. Am Ende bleibt die Frage, ob eine neue Thematisierung von Klassenkonflikten die alten Verführungen durch linksromantischen Radikalismus diesmal vermeiden kann.

Raphael selbst gibt eine Übung in Nüchternheit vor, die zeitdiagnostische Klingeltöne ("Neoliberalismus") erfreulich leise hält, die auch verbale Pendants zur Musealisierung von Zechen und Schächten vermeidet. Denn natürlich: Allem Gerede zum Trotz leben wir immer noch im Industriezeitalter, im technisch befeuerten Stoffwechsel mit der Natur. Es sieht nur heute ganz anders aus. Gäbe es noch eine intellektuell wache Sozialdemokratie, dies müsste ihr Buch sein. Es handelt von den Jahren, die wir kennen, und darum auch von einer Zukunft, die noch unbekannt ist.

© SZ vom 12.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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