Belastete Schüler:Wenn Mama krank ist

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Sie helfen beim Essen, Waschen und Ankleiden, sie trösten, lesen vor und reichen Medikamente an: Nahezu eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland pflegen zu Hause ein chronisch krankes Familienmitglied. Schulen sollten darauf reagieren.

Von Susanne Klein

Sie helfen beim Essen, Waschen, Ankleiden und beim Toilettengang. Sie trösten und lesen vor, massieren und reichen Medikamente an. Fast immer arbeiten sie mehr im Haushalt mit als Gleichaltrige.

Die Rede ist von Schülerinnen und Schülern, die regelmäßig chronisch kranke Familienmitglieder umsorgen. Es sind in Deutschland weit mehr, als man lange gedacht hat: 480 000 im Alter von zehn bis 19 Jahren, wie die Universität Witten/Herdecke in einer Studie für das Bundesgesundheitsministerium ermittelt hat. Das entspricht sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen in dieser Altersgruppe - rein rechnerisch sitzen damit ab Jahrgang fünf in jeder Klasse 1,5 pflegende Minderjährige. Zweidrittel von ihnen sind Mädchen.

Lange wurde von dieser besonderen Gruppe "pflegender Angehöriger" wenig Notiz genommen, doch allmählich rückt sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Online-Beratungen wie Pausentaste.de und Echt-unersetzlich.de unterstützen mit Gesprächsangeboten und Informationen; vergangene Woche widmete die ZDF-Dokureihe "Menschen hautnah" dem Thema eine Sendung (Wiederholung am 19. Juni). Aber nur selten wird genau nachgefragt, wie es den Mädchen und Jungen in der Schule ergeht. Welche Folgen hat die familiäre Situation für sie? Wie kann die Schule, wie können Lehrer diesen Schülern beistehen?

Der Erziehungswissenschaftler Thomas Gentner hat solche Fragen ins Zentrum seiner Promotion gestellt. Er befragte 155 Mädchen und Jungen, die meisten um die zehn Jahre alt, an vier Schulen in Baden-Württemberg. Und er befragte als Erster auch Lehrer zu dem Thema, in ausführlichen Interviews mit zehn Lehrerinnen. Gentner, der Krankenpfleger, Pflegeschulleiter und Lehrbeauftragter an einer Pädagogischen Hochschule ist, war überrascht, als er für seine Doktorarbeit in die Schulen kam. Von dem großen Bedürfnis der Schüler, über Krankheit, Pflege und Tod zu sprechen. Und davon, wie schwer es Lehrern fällt, pflegende Kinder in ihren Klassen überhaupt zu identifizieren.

"Für diese Kinder beginnt Unterstützung damit, wahrgenommen zu werden."

Zweidrittel der Kinder, die zu Hause einen Angehörigen versorgen, hatten zum Zeitpunkt der Befragung noch nie mit jemandem darüber gesprochen, fand Gentner heraus. Dabei wünschten sich die Schüler den Austausch durchaus, wollten mehr Informationen zu ihrer Situation und Anleitung zu ihren Tätigkeiten. Besonders an der Schule hätten sie gern "jemanden zum Reden" - doch gerade da fehlen Ansprechpartner offenbar. "Für diese Kinder beginnt Unterstützung damit, überhaupt erst mal wahrgenommen zu werden", sagt Gentner. Das aber setze vertrauensvolle Beziehungen zu Lehrern voraus, die für das Thema sensibilisiert sind.

Weiß ein Lehrer nicht, dass ein Kind zu Hause seine krebskranke Mutter betreut, kann er Warnzeichen nicht richtig deuten. "Pflegende Schüler fühlen sich deutlich häufiger als andere allein, unglücklich und überfordert", sagt Gentner. Wirkt ein Kind müde oder in sich gekehrt, fehlt es oft, fallen seine Leistungen ab, wird es gemobbt? Erst, wenn Lehrer bei diesen Indikatoren auch an einen kranken Angehörigen als mögliche Ursache denken, könne es gelingen, mehr betroffene Kinder als bisher zu identifizieren und zu unterstützen. Diese Voraussetzung benannte auch eine der befragten Lehrerinnen: "Das Schlimme ist: Wir wissen nicht, dass Fortbildungsbedarf da ist, weil das Thema Pflege nicht in unserem Bewusstsein ist." Gentner betont aber, in seinen Interviews durchweg auf einfühlsame Reaktionen gestoßen zu sein, man müsse das Thema nur erst mal setzen.

Wissen Lehrer Bescheid, können sie einiges tun. Über pflegende Kinder im Unterricht sprechen, auf Elternabenden informieren, Hausaufgabenunterstützung vermitteln. Auch Schulsozialarbeiter können helfen, mit Sorgenberatungen und Kontakten zu externen Hilfsdiensten. Gentner empfiehlt aber auch mehr pflegerische Expertise an den Schulen. School Nurses, wie es sie etwa in Skandinavien gibt, könnten Betroffene ganz gezielt unterstützen. Von dieser Personalversorgung ist Deutschland aber weit entfernt. Schulkrankenschwestern sind in den meisten Schulen unbekannte Wesen.

© SZ vom 17.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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