Diskursanalyse:Frommer Sex

An diesem Wochenende erscheint Michel Foucaults Nachlassband "Die Geständnisse des Fleisches" auf Deutsch. Hier spricht ein anderer Autor als in "Überwachen und Strafen". Der Stil ist asketisch.

Von Lothar Müller

French philosopher Michel FOUCAULT talking at W.Berlin Technical University,during gathering against inprisonment of militant members of 'Red Army Fraction' at 3 day manifstation by W.German and European extreme left wingers.

„Die ,bürgerliche’ Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – zweifellos noch die unsere – ist eine Gesellschaft der blühendsten Perversion.“ Michel Foucault auf dem Tunix-Kongress 1978 in der Technischen Universität Berlin.

(Foto: raymond depardon / Magnum Photos)

Als Michel Foucault am 25. Juni 1984 in Paris starb, hatte er zuvor verfügt, es dürfe keine Publikationen aus seinem Nachlass geben. Dass seine Manuskripte nicht als Abfall entsorgt, sondern aufbewahrt werden würden, konnte er voraussetzen. Und da er mit großem Erfolg den Begriff des Archivs von staubgeschwängerten Institutionen und Gebäuden gelöst hatte, dürfte er das unablässige Wispern, von dem seine unpublizierten Manuskripte rasch umgeben waren, ebenso vorausgeahnt haben wie die Transformation, durch die sie den Limbus des Archivs verlassen und sich aus Gerüchten in Bücher verwandeln würden.

Als im vergangenen Frühjahr bei Gallimard der vierte Band von Foucaults "Sexualität und Wahrheit", den der Autor vor seinem Tod nicht mehr hatte druckfertig machen können, unter dem vom Autor vorgesehenen Titel "Les aveux de la chair" herauskam (SZ vom 13. Februar 2018), war dem eine Veränderung auf Seiten der Rechteinhaber vorausgegangen. An die Stelle der verstorbenen Geschwister war ein Neffe getreten, der das bedeutendste Gerücht aus dem Limbus entließ und dem Archiv in Foucaults Sinne zuführte.

An diesem Wochenende erscheint "Die Geständnisse des Fleisches" auf Deutsch. Die sorgfältige Übersetzung von Andrea Hemminger beginnt so: "Das Regime der aphrodisia, das von der Ehe, der Zeugung, der Ächtung der Lust und einem Band respektvoller und großer Sympathie zwischen den Eheleuten bestimmt ist, haben die nichtchristlichen Philosophen und Führer formuliert; damit hat sich eine ,pagane' Gesellschaft die Möglichkeit der Anerkennung einer für alle akzeptablen Verhaltensregel verschafft - was jedoch bei weitem nicht heißen soll, dass sie auch tatsächlich von allen vertreten wurde. Dasselbe Regime finden wir, ohne wesentliche Änderungen, in der Lehre der Kirchenväter des zweiten Jahrhunderts."

Eine ganze Generation liegt zwischen dem Tod Foucaults und unserer Gegenwart. In diesen Anfangssätzen kehrt er zurück, als habe er den Raum nur für ein paar Minuten verlassen und könne an das eben Gesagte nahtlos anknüpfen. Das eben Gesagte stand in den Bänden 2 und 3 von "Sexualität und Wahrheit", die im Todesjahr 1984 erschienen. Hier, in "Der Gebrauch der Lüste" und "Die Sorge um sich" hatte er das "Regime der aphrodisia" bei den Philosophen der Antike erörtert, im Blick auf die klassische griechische Kultur im 5. Jahrhundert vor Christus und die römische Spätantike. Und wenn er bei diesem abrupten Einstieg en passant anmerkt, die Lehre der Kirchenväter unterscheide sich kaum von dieser antiken Vorgeschichte, setzte er Hunderte von Seiten voraus, in denen er die plane Gegenüberstellung von sinnenfreudiger Antike und asketisch-sinnenfeindlichem Christentum außer Kraft gesetzt hatte.

Warum aber überhaupt dieser Rückgang auf die Antike und das frühe Christentum, in dessen Traktate über Buße und Taufe, Jungfräulichkeit und Ehe, Keuschheit und Enthaltsamkeit sich in diesem vierten Band vertiefen wird, von Justin, dem Märtyrer, über Tertullian, Clemens von Alexandria, Johannes Chrysostomos, Cyprian von Karthago und Gregor von Nyssa bis hin zu Augustinus? Niemand, der diesen Nachlassband aufschlägt, wird das aus ihm selbst erfahren.

Denn die Einleitung, die Foucault hier verweigert, setzte er wie die Kenntnis des "Regimes der aphrodisia", die Problematisierung der Liebesfreuden und Leibeslüste, voraus. Er hatte sie dem Band "Der Gebrauch der Lüste" vorangestellt und darin begründet, warum sein Projekt "Sexualität und Wahrheit" ins Stocken geraten war und er acht Jahre gebraucht hatte, um den Nachfolger zum Auftaktband "Der Wille zum Wissen" zu schreiben. Der Grund war, wie er schrieb, "sehr einfach." "Es war Neugier - die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen."

"Im Wappen unserer Sexualität steht zuchtvoll, stumm und scheinheilig die spröde Königin."

In Foucaults Lob der Neugier steckte das Bekenntnis der Selbstrevision, der Wunsch, Distanz zu gewinnen zum eigenen Werk. Und er bezeichnete den Punkt sehr genau, an dem ihm dies notwendig erschien, indem er nun im Blick auf die Regulierungen der Sexualität programmatisch zwischen dem "System der Werte, Regeln und Verbote" unterschied und dem, was er die "Subjektivierungsweisen" und "Selbstpraktiken" nannte, die damit verbunden waren. Auf diese Entstehungsgeschichte des moralischen Subjekts, das sich als solches ernährt, war er neugierig, und der Ehrgeiz, sie zu schreiben, führte ihn aus der Neuzeit, aus der Welt vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in der er sein Projekt ursprünglich hatte ansiedeln wollen, hinaus. Mit der historischen Ausweitung seiner Genealogie der Moralcodes und seiner Archäologie des Wissens war eine Umgruppierung des begrifflichen Instrumentariums verbunden. Je mehr Foucault der antiken Sorge um sich selbst nachspürte und in ihr eine "Ästhetik der Existenz" entdeckte, desto mehr trat in den Hintergrund, womit er berühmt geworden war: die Analyse von Ausgrenzen und Ausschließen, Überwachen und Strafen.

Die Problematisierung und Regulierung der Sexualität in der Antike und im Christentum, also die Fundamente der neuzeitlichen Moralcodes, untersuchte er nicht mehr vorrangig als Terrain, auf dem die Mikrophysik der Macht agiert. Er spürte vielmehr der Vorgeschichte moderner Subjektivität nach, der Fähigkeit, sich reflexiv zu sich selber zu verhalten. In "Die Geständnisse des Fleisches" erreichte Foucault den Fluchtpunkt der Entfernung vom Machtkonzept seiner früheren Schriften. Im Auftaktband "Der Wille zum Wissen" hatte er 1976, in einer Aufschwungphase der Emanzipationsbewegungen, mit der Zurückweisung der "Repressionshypothese" Furore gemacht. Lustvoll hatte er die Legende demontiert, derzufolge sich die Geschichte der Sexualität als Geschichte der wechselnden Formen und Intensitäten ihrer Unterdrückung darstellen ließe. "Die Macht ist wesenhaft das, was dem Sex sein Gesetz diktiert." Das war einer der Sätze, in denen er die Repressionshypothese verdichtete - und verabschiedete.

Es stand aber, wenn er damals von "Geständnis" sprach, noch die Folter als Schatten des Geständnisses im Hintergrund, beide erschienen als "schwarze Zwillingsbrüder". Nun aber sind die "Geständnisse des Fleisches", die Buß- und Selbsterforschungspraktiken, die als Vorbedingungen der Taufe fungieren, nicht lediglich Sanktionen negativer Abweichung, sondern Ausgriffe auf eine positiv ersehnte Existenzform wie die geschlechterübergreifende Keuschheit, deren Normhorizont Foucault in den frühchristlichen Traktaten aufsucht.

Dieser vierte Band von "Sexualität und Wahrheit" lässt sich aber nicht nur als Fluchtpunkt einer Denkbewegung lesen. Er dokumentiert zugleich eine Metamorphose des Autors Michel Foucault, die gerade für seine Wirkung in Deutschland bedeutsam ist. Wäre es zu der geplanten Begegnung zwischen ihm und Jürgen Habermas gekommen, die Foucaults Tod vereitelte, so hätte dabei womöglich eine Kontroverse nicht nur über die Machttheorie auf der Tagesordnung gestanden, sondern auch über die Gattungsunterschiede zwischen Philosophie und Literatur, als deren Hüter Habermas in seinen Vorlesungen "Der philosophische Diskurs der Moderne" (1985) auftrat.

Zum großen Echo, das Foucault zu Lebzeiten in Deutschland fand, trug der "Sound" seiner Schriften erheblich bei. Den essayistischen Schwung in "Der Wille zum Wissen" (1977), des Auftakts von "Sexualität und Wahrheit", hat die damalige Übersetzung von Ulrich Raulff und Walter Seitter eher verstärkt als abgemildert.

"Im Wappen unserer Sexualität steht zuchtvoll, stumm und scheinheilig die spröde Königin", hieß es zu Beginn des Kapitels "Wir Viktorianer". Sätze wie diesen wird man in "Die Geständnisse des Fleisches" nicht finden. Der Titel ist die spektakulärste Formel in diesem spröden Buch. Nicht nur der Machtbegriff tritt hier in den Hintergrund, sondern auch das Ich des Autors. An seine Stelle tritt das "Wir" der Gelehrsamkeit, ein asketisches Textsubjekt, das in geduldigem close reading und präziser Prosa jeder Nuance und begrifflichen Schattierung der alten Texte nachspürt, ohne je Brücken in die Gegenwart zu schlagen. Wer seinerseits geduldig ist und eine Neugier mitbringt, die wie die Foucaults die Selbstdistanz einschließt, liest das Buch mit Gewinn.

Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Herausgegeben von Frédéric Gros. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 558 Seiten, 36 Euro.

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