Debattenkultur:Wächteramt der Kritik

Jürgen Habermas im Philosophischen Seminar, Frankfurt 1969

Ein Mann von knapp vierzig Jahren demonstriert die Praxis des kommunikativen Handelns: Jürgen Habermas im Philosophischen Seminar der Frankfurter Universität im Januar 1969, fotografiert von Max Scheler, Sohn des gleichnamigen Philosophen.

(Foto: Max Scheler/SZ Photo)

Geistige Orientierung und politisch-kulturelle Zeitdiagnose: In den Fünfzigerjahren fand Habermas seine Stimme als öffentlicher Intellektueller.

Von Jens Bisky

Plato hat den Philosophen bekanntlich Königsstellen zugedacht. Besser war es meist, wenn sie fürs Feuilleton schrieben, so etwa der Student Jürgen Habermas. Ende Juli 1953 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung seinen Artikel "Mit Heidegger gegen Heidegger denken". Er galt der Veröffentlichung der Vorlesungen "Einführung in die Metaphysik", die Martin Heidegger 1935 gehalten hatte. Karl-Otto Apel, mit Habermas befreundet und an der Bonner Universität so etwas wie dessen philosophischer Mentor, wies den sieben Jahre Jüngeren auf die Vorlesungen hin und auf eine Bemerkung Heideggers über die "innere Wahrheit und Größe" der nationalsozialistischen Bewegung. Gesprochen 1935, ohne Anmerkung gedruckt 1953. Habermas schrieb sich, wie er später erinnerte, sein "ungläubiges Entsetzen" von der Seele.

Jürgen Habermas fasste den Skandal als "Problem der faschistischen Intelligenz". Dabei ging er auf Distanz zu jenen, die ins Zentrum der Diskussion über Heideggers Faschismus die Rektoratsrede von 1933 stellten, in der "die Umwälzung des deutschen Daseins" gefeiert wurde. So zu beginnen, hieß für den noch nicht promovierten Habermas, die Sache zu simplifizieren: "Bedenkenswert ist doch vielmehr dies - wie der Autor von 'Sein und Zeit', das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels 'Phänomenologie', wie also ein Denker dieses Ranges in einen so offenbaren Primitivismus verfallen konnte, als der sich die hektische Stillosigkeit jenes Aufrufs zur Selbstbehauptung der deutschen Universität bei nüchternem Zusehen unbestritten erweist." Der Primitivismus ging, wie Habermas in seiner Charakteristik der Vorlesungen zeigte, einher mit einer Abwertung der "Intelligenz" gegenüber dem "Geist", mit Aufforderungen zur "heroischen Existenz gegen die fade Verfallenheit des Durchschnittlichen", mit antichristlichen und antiwestlichen Reflexen. Allen Kehren und Wandlungen zum Trotz blieb die Denkfigur stabil: "Aufruf zur Eigentlichkeit" und "Polemik gegen die Verfallenheit". Von dorther wurde 1935 die Gewalttat gefordert, später "Hut", "Huld", "Liebe", "Vernehmen", "Ergeben".

In seiner scharfen Genauigkeit, seiner Verständlichkeit für ein allgemeines Publikum, ist der Aufsatz ein Muster der Kritik. Beim Wiederlesen glaubt man, viele Motive des Philosophen Jürgen Habermas zu erkennen, der später, auf andere Weise, aus anderen Gründen, mit Freud gegen Freud, mit Marx gegen Marx dachte. 1953 knüpfte er an den Fall Heidegger grundsätzliche Überlegungen. Das "Problem der faschistischen Intelligenz" stellte sich als "Problem der Vorgeschichte des Faschismus". Und diesem seien die Deutschen, die Masse wie die Verantwortlichen, seit 1945 konstant ausgewichen. "Hatten wir nicht acht Jahre Zeit seither, das Risiko der Auseinandersetzung mit dem, was war, was wir waren einzugehen?"

Pünktlich zum neunzigsten Geburtstag des Philosophen erscheint im Suhrkamp Verlag eine detaillierte Studie zu seinem Werdegang (Roman Yos: Der junge Habermas. Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens 1952-1962. Berlin 2019, 26 Euro). Sie beginnt mit den frühen Feuilletonartikeln, etwa einer hinreißend formulierten Auseinandersetzung mit Gottfried Benn, führt über die Dissertation zur "Zwiespältigkeit in Schellings Denken", über viele Aufsätze zu hochschulpolitischen und kulturkritischen Fragen bis zur Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Roman Yos stellt Habermas in die Debatten der Zeit, in die geistige Landschaft der jungen Bundesrepublik.

"Wir halten Herrn Dr. Adenauer für einen Mann der Restauration", schrieb Eugen Kogon, dessen Buch "Der SS-Staat" Habermas bald nach Erscheinen 1946 gelesen hatte. Über den Rundfunk erfuhr er, was in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verhandelt wurde. Anfang der Sechziger erinnerte sich Habermas, dass andere begannen, über Rechtmäßigkeit des Gerichts und Verfahrensfragen zu streiten, "statt vor dem Grauenhaften zu verstummen". Das habe zu einem "ersten Riss" geführt: "Gewiss ist es nur das Verdienst eines empfindlichen und verletzbaren Lebensalters, dass wir uns damals der Tatsache der kollektiv verwirklichten Unmenschlichkeit nicht im selben Maße verschlossen haben wie die meisten der Älteren." Das schied die Fünfundvierziger von vielen Älteren.

Habermas findet seinen Weg zwischen Feuilleton und Wissenschaft. Er schreibt für Zeitungen, für die Frankfurter Neuen Hefte, für den Merkur. In einer Filmkritik für die Süddeutsche Zeitung wirft er die Frage nach dem Verhältnis zur Tradition auf: "Nun sollte man nicht gleich das, was preußisch-deutsche Tradition heißt, verwerfen, gleichwohl ist sauber darauf zu achten, dass wir dieses Erbe übel verwaltet und sehr wohl Verwerfliches daran geknüpft haben. Folglich besteht ein peinlicher Unterschied zwischen dem, was solche Tradition seinerzeit war und wozu sie heute noch taugt. Es ist eine offene Frage, ob sich wirklich die 'guten Elemente' isolieren lassen und als gereinigte Präparate wieder einführen lassen." Es sei, so Yos, für Habermas charakteristisch, dass er sich einem einfachen "Entweder - Oder" verweigert.

Nach Stationen in Göttingen und Zürich studiert er in Bonn. Sein Doktorvater wird Erich Rothacker, der im Sommer 1932 zur Wahl Hitlers aufgerufen hatte, mitten in den Terrorwochen der wilden KZs 1933 in die NSDAP eintrat, nach dem Krieg suspendiert worden war, bis er dank einer Einstufung als "entlastet" sein Professorenamt wieder aufnehmen konnte. Ein Forschungsstipendium führt Habermas ans Institut für Sozialforschung, zu Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nach Frankfurt am Main. Er beginnt Studien zu Karl Marx und dem Marxismus, was in der Bundesrepublik des Kalten Krieges noch ungewöhnlich war. Dessen Forderung nach Verwirklichung und Selbstaufhebung der Philosophie, von Marx in den "Pariser Manuskripten" entwickelt, müsse in Kritik überführt werden: "Weil die weltgeschichtlich gewordene Krise jede bloß subjektive Kritik überbietet, verlagert sich die Entscheidung so in Praxis hinein, dass erst mit ihrem Gelingen Kritik selber wahr werden kann."

Bei Yos tritt hervor, in welch atemberaubender Geschwindigkeit sich Habermas verschiedenste Wissensbestände, Theorietradition aneignet und mit einander ins Gespräch bringt, methodisch kontrolliert, rational argumentierend. Unter den vielen Motiven fallen zwei besonders auf. Zuerst und entscheidend die Aversion gegen Gewalt. Das trifft selbst den Ernst Bloch des "Prinzips Hoffnung", dem Habermas bescheinigt, er gebe dem "intimen Verhältnis der leninistischen Strategie zur Gewalt bloß eine gotische Verkleidung".

Zweitens erkennt er die philosophischen Probleme in den kulturkritischen Debatten über Elite, Masse, Bildung, Konsum, Technik, Freizeit. Öffentlichkeit wird auch deswegen zum großen Thema, weil es erlaubt, die Herabwürdigung der vielen und des "Geredes" zu vermeiden und stattdessen über Partizipation zu sprechen. Damit tritt Habermas auch jenen entgegen, die wie etwa Helmut Schelsky Entscheidungen in modernen Gesellschaften vor allem nach Sachlogik und Expertenmeinung getroffen sehen wollen. Wo andere Moralisierung und Ideologisierung fürchteten, sah er die Möglichkeit einer Rationalisierung von Herrschaft durch das Prinzip der Publizität.

Habermas war ein öffentlicher Intellektueller und Professor in Frankfurt am Main, als eine jüngere Studentengeneration seine Habilitationsschrift für sich entdeckte. Die Öffentlichkeit war deren erste Station auf dem Marsch durch die Institutionen, wenigstens für jene, die eine Selbstverständigung der Gesellschaft in Debatten, Kontroversen, im Austausch von Argumenten vorantreiben und gestalten wollten. Habermas hat auch sie kritisch begleitet, aufmerksam auf intellektuelle Kurzschlüsse, Koketterie mit Gewalt, aber auch für Pathologien der Moderne. In dem, was Menschen tun, in ihrer Lebenswelt wie in ihrer alltäglichen Kommunikation, jene Momente zu finden, die Ausgangspunkt der Verbesserung, ja des Fortschritts sind, bleibt ein unvollendetes, aber nicht aufzugebendes Projekt. Es braucht Kritik. "Kritik", so Habermas 1960, "ist mit Utopie in ihrem Ursprung eins".

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