Getöteter Regierungspräsident:Was wir im Fall Lübcke wissen - und was nicht

Der Tatverdächtige Stephan E. ist mehrfach vorbestraft. War er auch Teil eines Netzwerks? Wie kamen die Ermittler auf seine Spur? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Walter Lübcke, 65, früherer Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker, stirbt in der Nacht auf Sonntag, den 2. Juni, gegen 0.30 Uhr auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha. Er wird mit einem Schuss aus nächster Nähe offenbar regelrecht hingerichtet. Die Polizei nimmt einen Tatverdächtigen fest, Stephan E. Weil der Verdacht auf einen rechtsextremistischen Hintergrund besteht, übernimmt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen.

Was ist über den tatverdächtigen Stephan E. bekannt?

Stephan E. ist vielfach für Gewaltdelikte vorbestraft, im Jahr 1995 war er rechtskräftig wegen eines versuchten Bombenattentats auf eine Flüchtlingsunterkunft zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Auch in den darauffolgenden Jahren kam er vielfach wegen rassistisch motivierter Gewaltdelikte vor Gericht. Er soll im Umfeld der hessischen NPD und der Autonomen Nationalisten tätig gewesen sein. Seit 2010 ist er allerdings nicht mehr durch Straftaten aufgefallen. Es war ruhiger geworden um ihn, er hatte geheiratet und war Vater von zwei Kindern geworden.

Der Name Stephan E. fiel auch im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Mordserie im Hessischen Landtag. E. wurde damals als Beispiel für einen "gewaltbereiten Rechtsextremisten" genannt - jedoch nicht als Mitwisser oder Unterstützer des Trios Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Zuletzt war Stephan E. nicht als rechtsextremer Gefährder eingestuft. Bei der Auswertung seines Handys fanden die Ermittler nun allerdings zahlreiche hetzerische Kommentare in sozialen Netzwerken, vor allem bei Youtube. 2018 soll er dort unter dem Alias "Game Over" unter anderem geschrieben haben: "Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben". Ein anderer Kommentar: "Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen 'nichts' zu tun, Feigheit."

Haben die Behörden Stephan E. in den vergangenen Jahren aus den Augen verloren?

Darum wird es jetzt gehen, genauso wie um die Frage, ob womöglich seine neu erwachten Aktivitäten übersehen wurden. Fest steht derzeit nur, dass Polizei und Verfassungsschutz ihn nicht mehr auf dem Schirm hatten.

Wie kam die Polizei auf den Tatverdächtigen?

Über einen DNA-Abgleich. Die Ermittler hatten die Spur direkt auf der Leiche gesichert, der Computer meldete eine eindeutige Identifizierung: Stephan E.

Warum könnte der Tatverdächtige sich ausgerechnet Walter Lübcke als Opfer ausgesucht haben?

Das ist derzeit eine der offenen Fragen, ebenso wie die, ob es außer einer politischen Motivation auch einen persönlichen Grund geben könnte. Lübcke war im Jahr 2015 zum Ziel rechter Attacken geworden. Bei einer Bürgerversammlung zu einer Erstaufnahme-Unterkunft hatte er damals gesagt, dass es jedem freigestellt sei, Deutschland zu verlassen, der mit einer auf christlicher Nächstenliebe beruhenden Flüchtlingspolitik nicht einverstanden sei. Nachdem seine Äußerungen im Internet hochgeladen wurden, erhielt er Morddrohungen. Im Februar 2019 kursierte das Video plötzlich erneut auf Blogs.

Lübcke hatte einen Ruf als bürgernaher Politiker. Als Regierungspräsident hatte er keinen ständigen Polizeischutz, so wie etwa Innenminister der Länder oder viele der Angehörigen des Bundeskabinetts. Nach seiner Tötung jubelten fremdenfeindliche Hetzer im Internet darüber, was bundesweit für Empörung gesorgt hatte.

Handelte der mutmaßliche Täter allein - oder als Teil eines rechten Netzwerkes?

Dazu ist derzeit noch nichts Näheres bekannt. Die Frage wird jetzt Gegenstand der Ermittlungen sein. Der Tatverdächtige E. schweigt bislang.

Wie könnte Stephan E. an die Waffe gelangt sein?

Dazu gibt es derzeit keine gesicherten Erkenntnisse. Bekannt ist, dass Stephan E. eine Funktion in einem Schützenverein in einer hessischen Kleinstadt nahe Kassel innehatte. Der Vorsitzende des Vereins sagt, der Tatverdächtige habe keinen Zugang zu Schusswaffen gehabt, sondern lediglich zu Sportbögen. Entwendet worden sei nichts. Allerdings habe die Polizei den Schützenverein bislang auch nicht durchsucht. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Tatverdächtigen sind nach Angaben aus Sicherheitskreisen zwar Waffen entdeckt worden, allerdings keine scharfen, sondern lediglich eine Schreckschusspistole. Daneben fanden die Beamten Unterlagen, die darauf hindeuten sollen, dass sich Stephan E. dafür interessierte, eine Erlaubnis zum legalen Waffenbesitz zu erwerben. Die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden.

Welche weiteren Ermittlungsansätze gab es?

Zwischenzeitlich zogen die Ermittler auch eine Beziehungstat in Betracht. Am Pfingstwochenende war außerdem ein jüngerer Mann an einem Nordsee-Fährhafen festgenommen worden. Bei diesem handelt es sich um einen Bekannten von einem der beiden Söhne Lübckes, der Sanitätskenntnisse hat und in der Tatnacht zu Hilfe gerufen worden war. Es gibt Spekulationen, dass er dabei Blutspuren verändert haben soll. Seine Festnahme hatte Vermutungen ausgelöst, dass womöglich er der Täter sei oder Beihilfe geleistet haben könnte. Mit der Festnahme Stephan E.s hat er offenbar nichts zu tun.

Was bedeutet es, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen hat?

In erster Linie: Dass es um eine rechtsextreme oder gar rechtsterroristische Tat gehen könnte. Zugleich auch, dass die Sicherheitsbehörden Fehler aus der Vergangenheit vermeiden wollen, indem frühzeitig Karlsruhe übernimmt. "Wir haben aus den Fällen NSU und Amri gelernt", sagte ein Ermittler. Zuvor hieß es dagegen noch in Ermittlerkreisen: "Vergessen Sie die Mutmaßungen über einen Täter aus der radikalen Szene, dafür gibt es keine Hinweise." Bis zur Festnahme von Stephan E.

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