Russland:Fragen Sie Onkel Wladimir

Beim "Direkten Draht" gibt sich der Kremlchef ganz volksnah.

Von Silke Bigalke

Für manche fühlt es sich an wie Weihnachten im Juni. Mehr als vier Stunden lang durften russische Bürger am Donnerstag dem Präsidenten ihre Sorgen und Bitten vortragen. Wladimir Putin hörte zu und löste Probleme live und in Rekordgeschwindigkeit. Ein Feuerwehrmann aus der Region Kaliningrad bringt seine Familie mit 180 Euro monatlich nicht durch? Keine Sorge, der Präsident hat die Lohnerhöhung bereits in die Wege geleitet.

Die Sendung "Der direkte Draht" zeigt Putin als Universallösung, nie als Ursache von Missständen. Die sind zwar seit Jahren dieselben. Marode Straßen, hohe Müllberge, niedrige Löhne, zu wenig Ärzte gehören zu den Dauerklagen der Anrufer. Insofern zeigt die Sendung vor allem, was alles nicht funktioniert. Gleichzeitig aber nährt sie die Hoffnung, dass Putin sich längst gekümmert hätte, hätte er nur davon gewusst. Weil Russland groß ist, braucht er Helfer, Gouverneure und Minister. Und wenn die ihren Job nicht machen, was kann er dafür? Zwischendurch führt eine Moderatorin hinter die Kulissen, zeigt auf kleinen Bildschirmen der Regie, wie die Gouverneure dort parat sitzen, falls sie live zugeschaltet werden, um Rede und Antwort zu stehen. "Sie müssen nervös sein", sagt die Dame munter.

Putin, so das Signal, ist auf der Seite der Bürger. Den Mächtigen unter ihm zeigt er dabei, wer der Mächtigste ist. "Tun Sie es einfach", ruft er dem Gouverneur in der Region Tjumen zu, nachdem sich dort Dorfbewohner beschwert hatten, dass sie kein sauberes Wasser hätten. Putin fordert eine Wasserleitung ein, "bitte so schnell wie möglich". Ende 2018 ergab eine Umfrage, dass die Mehrheit der Russen Putin direkt für die Probleme verantwortlich macht. Seine Umfragewerte sinken, Erfolgsmeldungen sind rar, viele Russen müssen sparen. Den Unmut spürt Putin nicht mehr nur in den Regionen. In Moskau gingen kürzlich Hunderte zum ungenehmigten Protest auf die Straße, nachdem der Journalist Iwan Golunow wegen falscher Anschuldigungen festgenommen worden war. Er kam zwar rechtzeitig frei, um Putin nicht die Show zu stehlen. Doch die scheint nach 18 Jahren ihren Zauber zu verlieren. Die Einschaltquote waren in den vergangenen Jahren gesunken.

Größere Wunder konnten also nicht schaden, auch auf die Gefahr hin, dass sie gestellt wirken. Im Fernen Osten Russlands etwa wurden ausgerechnet am Tag der Livesendung endlich jene unglücklichen Wale in die Freiheit entlassen, über deren "Walgefängnis" seit Ende 2018 berichtet wurde. Eine Reporterin des Staatsfernsehens war vor Ort. "Der wunderbare Effekt des 'Direkten Drahts'", rief sie in die Kamera.

Über das Müllproblem sprach Wladimir Putin mit einer 15-Jährigen, die Sängerin, Bloggerin und Instagram-Star zugleich ist. Er zog sie den Menschen vor, die seit Monaten gegen eine große Deponie im Norden des Landes protestieren. "Ich hoffe, wir kriegen das bald unter Kontrolle", sagt der Präsident. Ein widerliches Thema sei das, "aber ich werde es im Auge behalten". Aus den insgesamt 2,6 Millionen Fragen wählte Putin die aus, denen er nicht ausweichen kann. Andere Fragen wurden zwar eingeblendet, blieben aber unbeantwortet. Etwa die direkt an den Kremlchef gerichtete: "Wann gehen Sie?"

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