Hassmails an Politiker:Wenn die Täter sich virtuell zusammenrotten

Henriette Reker

Abermals im Visier von Rechtsextremisten: Henriette Reker, die schon einmal Opfer einer Messerattacke wurde

(Foto: dpa)
  • Auch nach dem Mord an dem hessischen Lokalpolitiker Walter Lübcke erhalten Personen des öffentlichen Lebens Drohungen.
  • Neue Hassmails an die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Andreas Hollstein aus Altena sind an Drastik nicht zu überbieten.
  • Schon mehr als 200 Drohungen mit dem anonymen Absender "Staatsstreichorchester" sind seit April 2018 an Personen bundesweit gegangen, auch an Bundestagsabgeordnete.

Von Ronen Steinke, Berlin, und Christian Wernicke, Düsseldorf

Der Mann, der am 17. Oktober 2015 gegen neun Uhr morgens auf Henriette Reker zutrat, in Latzhose und Kapuzenpulli, und ihr die 30 Zentimeter lange Klinge seines Bowie-Messers in den Hals stach, war alleine unterwegs. Frank S., 44 Jahre alt, arbeitsloser Maler, hatte früher mal Kontakte zur militant-nazistischen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), im Netz besuchte er rechtsextreme Chats und Websites. Aber er war ein Einzeltäter und Eigenbrötler, in seiner Wohnung fanden die Fahnder nur seine Fingerabdrücke. Frank S., laut Gutachten unterdurchschnittlich intelligent, nannte sich selbst vor Gericht einen "wertkonservativen Rebellen". Nazi? "Nie!"

Auch der Mann, der am 27. November 2017 den Döner-Shop in der sauerländischen Kleinstadt Altena betrat und am Tresen Andreas Hollstein (CDU) fragte, ob er nicht der Bürgermeister sei, handelte auf eigene Rechnung. Werner S., 56, ein arbeitsloser Maurer, dem die Stadtwerke gerade das Wasser abgestellt hatten, umklammerte Hollstein von hinten, hielt ihm die Klinge eines Messers an die Kehle: "Ich stech' dich ab", schrie der Täter, "du lässt mich verdursten und holst 200 Ausländer in die Stadt!" Im Strafprozess beteuerte Werner S., er habe sein Opfer nur einschüchtern wollen. Er sei einsam, mittellos, ja depressiv gewesen, "und ich habe nichts gegen Ausländer".

Offen zelebrierte NS-Verherrlichung

Ganz anders ist nun der Klang dieser neuen Drohungen. Die Sprache der E-Mail, die die beiden Politiker Reker und Hollstein um 2.30 Uhr in der Nacht zum Mittwoch erhalten haben, ist an Drastik kaum zu überbieten. Von "Mord" ist da die Rede, von "Genickschüssen" auch gegen andere Politiker, gegen Familienangehörige und Freunde, und von der endgültigen "Auslöschung" jüdischen und muslimischen Lebens. "Und Sie", heißt es an die Kölner Oberbürgermeisterin und den Altenaer Bürgermeister gewandt, "werden ihnen beste Gesellschaft beim Sterben leisten." Die NS-Verherrlichung, der Rassismus - sie werden hier nicht mehr verbrämt, sondern offen zelebriert. Das anonyme Schreiben trieft vor Ideologie, "Sieg Heil und Heil Hitler!" heißt es zum Abschluss.

Die E-Mail gehört zu einer schon länger anhaltenden Serie solcher Drohungen, schon mehr als 200 davon mit anonymen Absendern wie "Staatsstreichorchester" sind seit April 2018 an Personen bundesweit gegangen, auch an Bundestagsabgeordnete. Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte die Koordination der Ermittlungen übernommen, weil dort die meisten Menschen betroffen sind. Aber ermittelt wird weiter gegen unbekannt. Und jetzt, da diese Tatserie Henriette Reker und Andreas Hollstein erreicht hat, ist auch bereits klar: Es sind mehrere Täter, die sich zusammengerottet haben, zumindest virtuell.

Denn im April hatten Ermittler in Schleswig-Holstein bereits einen ersten Verdächtigen in Untersuchungshaft genommen, der hinter Drohmails gesteckt haben soll, André M. aus Halstenbek, 30 Jahre alt. Einer, der sich im Netz als Rechtsextremist präsentierte und der in seinem Leben nicht nur die Strafjustiz, sondern auch Psychiater schon vielfach beschäftigt hat. Aber gleich nach seiner Verhaftung gingen weitere Schreiben des "Staatsstreichorchesters" raus. Als wäre nichts geschehen.

Zwei getrennten "Schienen"

Es sollen sogar mehrere Gruppen von Tätern sein, glauben die Ermittler inzwischen, von mindestens zwei getrennten "Schienen" gehen sie aus. Einerseits sind da die rohen Drohungen mit Absendern wie "NSU 2.0", "Wehrmacht" oder "Nationalsozialistische Offensive" - vulgär, kurz, oft fehlerhaft geschrieben. Unter anderem die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız ist auf diese Weise bedroht worden, auch in ihrem Fall sind Verdächtige gefasst und ihre Computer durchsucht worden, trotzdem gingen die Drohungen einfach weiter.

Andererseits sind da die längeren, ausgefeilteren Schreiben mit dem Absender "Staatsstreichorchester", in denen auch Forderungen erhoben werden. "Wir geben Ihnen Zeit, bis spätestens zum 31.08.2019 uns die geforderten 100.000.000 € in Bitcoin zu senden", heißt es nun auch in der Mail an die Kommunalpolitiker Reker und Hollstein. Es ist eine Erpressung. Anderenfalls: "Ihr Leben wird im Jahr 2020 enden."

In die Tat umgesetzt wurden diese E-Mail-Drohungen bisher zum Glück noch nie, es sei "alles virtuell geblieben", sagt ein Ermittler. Manchmal behaupten die Absender, Bomben abgelegt zu haben. Mindestens fünfzehn Mal sind deshalb seit Dezember Gerichte oder Justizzentren geräumt worden, zum Beispiel das Oberlandesgericht München, das Oberlandesgericht Bamberg, die Staatsanwaltschaft in Frankfurt. Gefunden hat man nie etwas, besonders betroffene Einzelpersonen bekommen seither trotzdem Personenschutz.

Reker zeigt Flagge

Der Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein sieht aber einen Zusammenhang zwischen denen, die so hetzen - und denen, die real ein Messer in die Hand nehmen. Der CDU-Politiker spricht von den "geistig Verantwortlichen" hinter dem Angriff im Döner-Laden, und er zitiert dazu bisweilen Angela Merkel. Die Kanzlerin hatte bei einer Gedenkfeier zum 25. Jahrestags des Mordanschlags auf eine türkische Familie in Solingen gesagt: "Wer mit Worten Gewalt sät, der nimmt zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet wird." Andreas Hollstein macht weiter lokale Politik, mit Zustimmung seiner besorgten Ehefrau und trotz der beiden Hörstürze, die er Wochen nach dem Angriff erlitt. Und es geht weiter: Die Morddrohung der "Staatsstreicher" vom Mittwoch war nur eine von vielen, die im Rathaus ankommen.

Auch Henriette Reker ereilen allwöchentlich Drohmails und Hassbotschaften. Routine, ihr Büro im Kölner Rathaus leitet die Hetze stets an die Polizei weiter. Reker gibt sich unbeeindruckt, zeigt Flagge. Nachdem die Ermittler im Fall des am 2. Juni ermordeten hessischen Lokalpolitikers Walter Lübcke den Rechtsextremisten Stephan E. als mutmaßlichen Täter identifiziert hatten, erklärte sie, der Mord müsse "uns wachsam machen, aber nicht ängstlich". Und weiter: "Je stärker unsere Vielfalt angegriffen wird, desto mehr müssen wir sie verteidigen. Wir werden keinen Zentimeter weichen."

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