Gedenkfeier:Die Vergessenen

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Endlich ein würdiger Gedenkort: Der ehemalige SS-Schießplatz Hebertshausen. (Foto: Toni Heigl)

Die SS ermordete in Dachau mehr als 4000 gefangene Rotarmisten. Erst seit 2014 erinnert ein Gedenkort an das Kriegsverbrechen. Historiker haben inzwischen die Biografien von 950 Opfern recherchiert

Von Victor Ünzelmann

In den Jahren 1941 und 1942 wurden mehr als 4000 sowjetische Kriegsgefangene von der Dachauer Lager-SS am ehemaligen SS-Schießplatz Hebertshausen ermordet. Am Samstag, 22. Juni, findet um elf Uhr eine Gedenkveranstaltung auf dem Gelände statt, auf dem 2014 eine Gedenkstätte errichtet worden ist. An diesem Tag jährt sich der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion zum 78. Mal. So ist Dachau, Standort des am längsten stehenden Konzentrationslager (1933 bis 1945), auch zu einem Schauplatz des Vernichtungskrieges geworden. Ein geschichtliches Erbe, das bis heute nachwirkt - trotz der Jahre der Leugnung und des Schweigens.

"Furchtbar war es, wenn die zur Erschießung kommenden Russen [...]auf Lastwagen stiegen, um zum Schießplatz gebracht zu werden. Mancher lächelte mich an. Eine Stunde später brachte der Lkw die Kleider zurück zur Desinfektion. Dann kamen die bei der Exekution tätigen SS-Unterführer zurück und sprachen im Dienstzimmer ungeniert über dieses Ereignis." (Auszug aus "Insel des Standrechts", Häftlingsbericht von Alfred Hübsch aus dem KZ Dachau.)

Oktober 1941 verlegte die SS die Exekutionen der Kriegsgefangenen auf den "SS-Schießplatz Hebertshausen". Den völkerrechtswidrigen Erschießungen fielen bis zu ihrem Ende im Sommer 1942 mehr als 4000 gefangene Rotarmisten zu Opfer. Auf Lastwagen brachte die SS sie auf den Schießplatz, entkleidete sie, ließ sie sich in Fünferreihen aufstellen, kettete sie mit Handschellen an einen der fünf Pfähle vor dem Kugelfang. Dann wurde geschossen. Die Leichen wurden im Krematorium des KZ Dachau verbrannt, zum Teil auch nach München gefahren.

Die Öffentlichkeit sollte von den Vorgängen nichts mitbekommen, wie Andrea Riedle, Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau, sagt. Alleine deshalb, damit nicht die Frage aufkommt: Wenn wir die Russen so behandeln, wie werden sie dann unsere Leute behandeln? Die Taten ließen sich dennoch kaum verheimlichen, wie Schilderungen der Zeitzeugin Maria Seidenberger bestätigen: "Meine Mutter konnte das Schießen tagelang mitanhören, da wir in der Nähe des Schießplatzes wohnten. Wochenlang fanden täglich Erschießungen statt, die bis Abend andauerten." Das bestätigt auch Andrea Riedle, die Schüsse sollen von Hebertshausen bis in das KZ hörbar gewesen sein. Außerdem blieben beim Abtransport der Leichen Spuren von Blut, das aus den Lastwagen auf die Straße geflossen war.

Die Selektion der Kriegsgefangenen übernahm die Gestapo in Kooperation mit der Wehrmacht, anschließend wurden die Kriegsgefangenen nach Dachau gebracht und der SS übergeben. Grundlage für die Selektion sind die Befehle "Nummer 8" und "Nummer 9" von Reinhard Heydrich, Leiter des "Reichssicherheitshauptamts". Der Befehl "Nummer 8" beschreibt die rassistischen und antisemitischen Kriterien, nach denen die Kriegsgefangenen "ausgesondert" werden sollten. Hierunter fielen Juden, kommunistische Funktionäre und Intellektuelle - entsprechend dem Feindbild der Naziideologie: "jüdischer Bolschewismus" und "slawische Untermenschen". "Nummer 9" besagt, dass die "Ausgesonderten" im nächstgelegenen Konzentrationslager ermordet werden sollten. Im Falle Dachaus waren das Kriegsgefangene aus den Wehrkreisen Stuttgart, München, Wiesbaden, Nürnberg und Salzburg.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann ein Vernichtungskrieg mit bis dahin unbekannter Brutalität. Das Leid und die Wunden wirken bis in die Gegenwart fort. Von 5,7 Millionen sowjetischen Armeeangehörigen in deutscher Kriegsgefangenschaft kamen drei Millionen ums Leben - bei Massakern, wie dem in Hebertshausen, aber auch durch unmenschliche Haftbedingungen, Hunger und Zwangsarbeit. Insgesamt starben im Zweiten Weltkrieg ungefähr 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion.

Die Geschichte des Ortes ist beispielhaft für das Schweigen über die Verbrechen in Nachkriegsdeutschland. 1945 übernahm die US-Army den Schießplatz und nutzte das anliegende Wirtschaftsgebäude als Flüchtlingslager bis in die 1950er Jahre. Noch heute bringt die Stadt in dem Gebäude Obdachlose unter. Von einer Aufarbeitung der Geschehnisse wollten Politik und Bevölkerung lange Zeit nichts wissen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft verdrängte oder leugnete gar die Verbrechen der Nationalsozialisten. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs war eine Beschäftigung mit einem Massaker an Angehörigen der Roten Armee zusätzlich erschwert. Die Toten wurden aber nicht vollends vergessen: Am 3. Mai 1964 errichtete die Lagergemeinschaft Dachau einen Gedenkstein in Erinnerung an die Ermordeten. Ein erster Schritt.

Andrea Riedle weist darauf hin, dass mit keinem Wort die Sowjetunion auf dem Gedenkstein erwähnt wurde. Die Rede war von Tausenden von der SS ermordeten Kriegsgefangenen. Die Toten blieben eine graue Masse, die Opfer anonym: keine Gesichter, keine Namen, keine Geschichte. Der Ort selbst verkam, wurde von Büschen und Unkraut überwuchert. Im Jahr 1966 beschwerte sich darüber die sowjetische Botschaft in einem Schreiben an das Auswärtige Amt. 1983 erwarb die Stadt Dachau das Gelände. In den 1980er Jahren nahmen sich zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Vereine des Ortes an. Seit 1985 hält die Initiative Jahrestag der Befreiung im Anschluss an die jährliche Befreiungsfeier der KZ-Gedenkstätte Dachau eine Gedenkveranstaltung ab.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung begann jedoch erst in den 1990er Jahren. Der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau, der wesentlich die Erinnerung hochhielt, richtete seit 1991 eine jährliche Gedenkveranstaltung am 22. Juni ab. 1998 begann der Aufbau eines Gedenkortes. Mit dem Jahr 2014 fing ein neuer Abschnitt des Gedenkens an: Der "SS-Schießplatz" wurde unter der Regie der Gedenkstätte zu einem Gedenkort mit Informationstafeln mit Texten auf Deutsch, Russisch und Englisch. Vor allem: Dazu kam die Installation "Ort der Namen"; auf langen Platten am Boden sind die Namen der Opfer in lateinischen und kyrillischen Lettern eingelassen. Der "Ort der Namen" - 850 wurden bisher ermittelt - wird nun um rund 100 Namen ergänzt. Drei neue Tafeln kommen dazu, mit jeweils einer Biografie eines Opfers. Die KZ-Gedenkstätte recherchiert die Namen der Opfer und will ihnen ein Gesicht geben. Die ausgewählten Biografien seien exemplarisch, sagt Andrea Riedle, sowohl geografisch als auch die vermutlichen Selektionskriterien betreffend. Beispielhaft sei die Geschichte von Wladimir Semenowitsch Poltawskij, da er wie rund 80 Prozent der Opfer ein einfacher Soldat war, kein Offizier oder höherrangiger Militärangehöriger. In Rostow am Don, heutiges Russland, im Jahr 1919 geboren, wuchs er zusammen mit seiner Schwester in einem Kinderheim auf. Nach der Schule arbeitete er als Schreiber bei archäologischen Ausgrabungen. 1941 wird er eingezogen und gerät im selben Jahr in Brest im heutigen Weißrussland in Kriegsgefangenschaft. Im Lager Nürnberg-Langwasser muss er schwere Erdarbeiten auf dem Reichsparteitagsgelände verrichten. Die Bedingungen sind so mörderisch, dass aus seiner Einheit von 1400 Soldaten mehr als 930 sterben. Am 19. November 1941 wird er nach Dachau zur Exekution gebracht. Warum es gerade ihn traf, wisse man nicht, sagt Andrea Riedle. Für die "Aussonderung" galt es vorgeschriebene Quoten zu erfüllen.

Oder Nikolaj Gawriilowitsch Gribanow, der 1915 in der Ukraine geboren wurde. Nach dem Abschluss der Schule arbeitete er wie auch schon sein Vater und Großvater im Metallwerk. Dort erlernte er den Beruf des Zeichners. Von 1936 bis 1938 besuchte er die Fliegerschule in Luhansk. 1941 geriet er im heutigen Weißrussland in die Hände der Deutschen. Die Gestapo Nürnberg-Fürth holte ihn aus dem Kriegsgefangenenlager Hammelburg in Unterfranken heraus, wahrscheinlich unter dem Kriterium "Intelligenzler", und verschleppte ihn zur Erschießung. Am 8. Januar 1942 endet seine Spur in einem Transport nach Dachau.

Die dritte Gedenktafel ist Grigorii Demitriewitsch Smirnow gewidmet. Er wurde 1901 im Gebiet Jaroslawl, nord-östlich von Moskau, geboren. Seitdem er 14 war, arbeitete er in der örtlichen Textilfabrik. Er wurde 1919 Komsomol und anschließend Mitglied der kommunistischen Partei. Von 1927 an studierte er Sowjethandel an der Hochschule in Leningrad und wurde 1936 Direktor der Akademie für Sowjethandel an der Akademie in Iwanowo. Während des Studiums heiratete er, das Paar bekam drei Kinder. 1941 wurde er für eine Wehrübung nach Litauen eingezogen und geriet bei Vilnius in Kriegsgefangenschaft. In Hammelburg wurde er als kommunistischer Funktionär "ausgesondert" und am 27. Januar 1942 zur Exekution nach Dachau gebracht.

© SZ vom 21.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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