Massenproteste in Tschechien:Tausende Gründe gegen den Premier

Protest rally demanding resignation of Czech Prime Minister Andrej Babis in Prague

„Wir wollen eine Kultur des Anstands in der Politik“, sagen die Organisatoren der Proteste gegen den tschechischen Regierungschef Andrej Babiš.

(Foto: Milan Kammermayer/REUTERS)
  • Zehntausende Tschechen kommen in Prag aus dem ganzen Land zusammen.
  • Die Demonstranten fordern den Rücktritt ihres Premiers Andrej Babiš und der Justizministerin Marie Benešová.
  • Babiš lässt verlauten, die Leute hätten ein Recht zu demonstrieren, aber keinen Grund. Sie demonstrierten auf der Grundlage von Lügen.

Von Viktoria Großmann, Prag

Fast so viele wie 1989: Laut den Veranstaltern füllten 250 000 Menschen am Sonntagnachmittag in der Juni-Hitze den Letná-Platz in Prag. Tatsächlich schienen über der gesamten Länge von mehr als 500 Metern europäische und tschechische Flaggen zu wehen. Aus ganz Tschechien waren die Menschen angereist, mehrere Busse kamen aus Ostrava, Pilsen oder Brünn. Äußerst friedlich und ruhig versammelten sich die Massen zur bisher größten Demonstration gegen Premier Andrej Babiš. "Wir sind nicht deine Angestellten", hieß es auf einigen Plakaten. Babiš hatte vor seinem Amtsantritt erklärt, er wolle den Staat wie eine Firma führen. Von den Demonstranten will er erklärtermaßen nichts hören. Aber die Plakate der Menschen verrieten deutlich, dass sie umso genauer hinhören, was ihr Premier sagt und verspricht. Viele brachten es auf die kurze Formel: Babiš lügt und stiehlt. Was die meisten hier stört, ist, dass gegen Babiš strafrechtlich ermittelt wird. Und dass er im kommunistischen Regime nicht nur Parteimitglied, sondern auch Spitzel war.

"Babiš in den Raps", fordern einige Plakate. Der Premier ist mit seinem Agrarunternehmen Agrofert zum zweitreichsten Mann Tschechiens geworden. Die EU-Kommission wirft ihm nun vor, zu Unrecht Subventionen erhalten zu haben. Er befinde sich in einem Interessenkonflikt. Die Menschen am Letná glauben der EU, fordern ihre Steuergelder zurück und machen das Großunternehmen mit seinen Riesenäckern gleich noch mitverantwortlich für die Zerstörung ihrer Heimat und von kleineren Familienbetrieben.

Viele wollen nicht nur Babiš, sondern auch Präsident Miloš Zeman loswerden. Dieser hatte erst kürzlich erklärt, er werde Babiš immer wieder im Amt bestätigen. Am Mittwoch erwartet den Premier sein zweites Misstrauensvotum.

"Logisch kann ich das nicht erklären, warum die Leute, besonders viele alte, immer noch Zeman unterstützen", sagt die etwa 80-jährige Eliška, die mit ihrer gleichaltrigen Freundin Jana zur Demo gekommen ist. Sie hat schon 1989 mitdemonstriert. "Ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauern würde, einen neuen, anständigen Staat zu bekommen", sagt Jana. Nicht nur die älteren, auch viele jüngere stört, dass die Kommunistische Partei wieder soviel Macht erhalten hat - sie sichert die Minderheitsregierung von Babiš ab.

"Wir brauchen die neue, junge Generation", sagt Ludmila Kocourková. Sie ist mit Freunden und Familie aus Sázava angereist. Sie stört vor allem, dass Zeman den Anschluss an Russland sucht. "Wir gehören aber zum Westen." Auch sie hat vor 30 Jahren schon demonstriert. "Wir haben im Kommunismus nur gelernt, den Mund zu halten." Es habe lange gedauert, aber nun merkten die Menschen endlich, dass sie sich nicht alles bieten lassen müssten.

"Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass jemand, gegen den strafrechtlich ermittelt wird, Premier ist", sagt der 24-jährige Theologie-Student Benjamin Roll. Er gehört zu den Organisatoren der Demonstrationen, zu denen seit Ende April im ganzen Land Hunderttausende gingen. "Wir wollen eine Kultur des Anstands in der Politik", sagt Roll. Er spricht von Ethos und Ehrlichkeit. Auch wenn er im Moment selbst nicht glaubt, dass der Premier zurücktreten wird. Die Organisation "Eine Million Augenblicke für die Demokratie" entstand nach dem Wahlsieg von Babiš und seiner Partei Ano im Herbst 2017. Dahinter steht neben Roll vor allem der 26-jährige Mikuláš Minář, Student der Bohemistik und Philosophie. Die Demonstration am Sonntag sieht Minář als Höhepunkt der bisherigen Aktivitäten, aber nicht als Abschluss - eher als Anfang. Danach soll eine viel breitere Arbeit folgen. Schon bilden sich Gruppierungen in verschiedenen Orten Tschechiens, an denen Diskussionsrunden stattfinden - zu denen auch Vertreter der Regierungsparteien eingeladen werden.

Babiš verweigert sich Gesprächen und TV-Duellen

Auf der Demo am Letná aber sprechen ausdrücklich keine Politiker. Stattdessen Schauspieler, Musiker, Bauern, Kirchenleute. Auch ein Grußwort der neuen slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová wird verlesen. "Uns verbindet ein gemeinsamer Ton", lässt sie ausrichten. Demonstranten in der Slowakei hatten nach dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak nicht nur Rücktritte erzwungen, es bildete sich auch eine neue politische Gruppierung. Sie stellt nun den Bürgermeister von Bratislava und brachte Zuzana Čaputová ins Präsidentenamt. Benjamin Roll will jedoch darin kein Vorbild sehen und betont: "Wir sind keine politische Organisation und wollen es auch nicht sein." Er könne sich aber vorstellen, dass einige durch die Bewegung zu politischem Handeln angeregt werden. Denn selbst wenn es zu Rücktritten kommt, wird in der tschechischen Politik nicht gleich alles besser. "Uns fehlen politische Talente", sagt Roll. Es ist dieses Verweigern eines politischen Bekenntnisses, das Kritiker den jungen Leuten vorwerfen. Sie hätten keinen Plan, heißt es. Präsident Zeman sagte im Radio, die Studenten sollten lieber einen Abschluss machen und sich eine anständige Arbeit suchen. Babiš, von Minář und Roll mehrmals zu Gesprächen aufgefordert, verweigert sich. Er ließ verlauten, die Leute hätten ein Recht zu demonstrieren, aber keinen Grund. Sie demonstrierten auf der Grundlage von Lügen.

Zur SZ-Startseite

Tschechien
:Unüberbrückbarer Interessenkonflikt

Andrej Babiš ist nicht nur Premier, er besitzt auch die Agrofert-Firmengruppe. Warum das nicht vereinbar ist, weist die EU-Kommission nun nach.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: