Norwegen:Ja, das ist ein Klo

Norwegen: An der Konstruktion für dieses Toilettengebäude tüftelte das Büro KAP jahrelang.

An der Konstruktion für dieses Toilettengebäude tüftelte das Büro KAP jahrelang.

(Foto: Lars Grimsby / Statens vegvesen)

Anderswo eifern Architekten um die Entwürfe für Museen oder Theater. An Norwegens "Landschaftsrouten" ist es gut für den Ruf, ein Toilettenhaus zu gestalten.

Von Laura Weißmüller

Normalerweise gehört ein Klohäuschen nicht gerade zu dem Bautyp, um den sich Architekten reißen. Spektakuläre Museen, aufsehenerregende Opernhäuser, himmelstürmende Hochhäuser, das ist eher die Sorte Architektur, die jeder angehende Baumeister auf der Wunschliste hat. Wenn es exotischer zugehen darf, steht dort vielleicht noch Zoogebäude, Flughafen oder Olympiastadion. Aber eine Toilette?

"Für uns war das ein sehr prestigeträchtiges Projekt", sagt der junge Architekt Eivind Stornes Gjertsen, während er stolz mit Fliegersonnenbrille und blauen Sneakers vor seinem, nun ja, Klohäuschen steht. Wobei, was heißt schon Klohäuschen? Tatsächlich sieht das Gebäude hier an der Westseite des Sandsfjords in Norwegen eher aus wie ein überdimensional großer Bergkristall aus Beton. Das Dach zackt sich in drei stumpfen Spitzen gen Himmel. Aus dem Inneren leuchtet es durch die Plexiglasplatten der Türen honiggelbfarben, und wer eintritt, findet nicht nur eine funktionierende Toilette, sondern auch Wände aus einem strahlend weißen Beton, in dem sich die Textur eines weichen Stoffes abdrückt.

Architekturspielerei? Vielleicht. Gleichzeitig handelt es sich bei dem Gebäude um eine notwendige Raststation an einer gut befahrenen Straße mit einer angeschlossenen Aussichtsplattform, die der spektakulären Sicht nicht die Schau stiehlt: Beeindruckend schlängelt sich da der Fjord tief hinein ins Landesinnere, zu beiden Seiten stürzen grünbewaldete Berge wie schlafende Riesen direkt ins Wasser. Kein Wunder, dass hier der norwegische Maler Lars Hertervig die Motive für seine stimmungsvollen Naturschilderungen fand. Die zeitgenössische Architektur schafft nur den passenden Rahmen dafür.

Und darum geht es in einem der vielleicht faszinierendsten, aber sicher auch handfestesten Architekturförderprogrammen, die es gibt: den Norwegischen Landschaftsrouten. Gestartet in den Neunzigerjahren auf eine Initiative des norwegischen Parlaments hin, um das Thema Straßenbau mit Tourismus zu kombinieren, und finanziert von der öffentlichen Hand, wählte ein Komitee aus Architekten, Landschaftsarchitekten und Künstlern junge Architekten und kleine Büros aus, damit sie Raststätten an den schönsten Straßen des Landes entwarfen, sprich, die nötige Infrastruktur schufen, damit Touristen, aber eben auch alle anderen, die mit dem Auto einen der ausgewiesenen Orte ansteuern, die Wasserfälle, Fjorde, Berge oder das Meer entspannt bewundern können.

Die 150 Bauten entlang der Routen wurden schon im MoMA in New York gezeigt

Um überhaupt herauszufinden, was die attraktivsten Strecken in diesem mit Naturschönheiten ja geradezu unverschämt reich beschenkten Land sind, fuhren Menschen wie Per Ritzler zwei Jahre lang die von den unterschiedlichen Regierungsbezirken vorgeschlagenen Routen ab. "In Norwegen führen Straßen an die abgelegensten Orte", sagt Ritzler, der die Norwegischen Landschaftsrouten betreut. Das passt zu einem Land, in dem eine beliebte Fernsehserie von Menschen handelt, "die an Orten leben, von denen sie nie gedacht hätten, dass das überhaupt möglich sei", so der Slogan. Nicht selten sind die Straßen selbst erstaunlich, führen sie doch mitten durch ein Bergmassiv oder entlang steiler Böschungen. Immer im Blick - zumindest auf den 18 schließlich ausgewählten Strecken, die sich von Jæren im Süden bis Varanger im Norden durchs komplette Land ziehen und heute insgesamt eine Länge von über 2000 Kilometern haben - eine Natur, die einem Paradies gleichkommt, wenn auch einem, in dem man selbst an einem Sommerabend schon mal eine Daunenjacke braucht.

Wie nebenbei hat die Initiative Norwegische Landschaftsrouten dabei gleich zwei widersinnige Gesetze der Gegenwart in ihr Gegenteil verkehrt. Erstens: Öffentliche Toiletten braucht zwar jeder, zumal auf Reisen, doch insbesondere an viel befahrenen Straßen gleichen sie Unorten, die man in der Regel fluchtartig wieder verlässt. Und zweitens: Architektur ist nur werbetauglich, wenn sie sich mit den Sonntagsbauten beschäftigt, sprich in Form von Museen, Opern oder Sportstadien daherkommt. In Norwegen sollen dagegen Toilettenhäuschen, Fußgängerbrücken, Aussichtsplattformen und formschöne Bänke den Tourismus ankurbeln. Mit Erfolg: "Die Besucherzahlen sind in Norwegen in den vergangenen drei bis vier Jahren stark gestiegen", sagt Per Ritzer. Er führt das auch auf die Beliebtheit der Routen zurück. "Das Projekt hat die norwegische Architektur sichtbar gemacht." Selbst im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) wurden die bislang etwa 150 Bauten an den Routen, zu denen bis 2024 noch etwa 50 dazukommen sollen, bereits ausgestellt. Und The Telegraph aus London titelte: "Norwegen hat gerade die schönste öffentliche Toilette der Welt eröffnet."

Das spornt an. Für die Norwegischen Landschaftsrouten etwas zu entwerfen, gehört zu den begehrtesten Architekturaufträgen des Landes. Aber nicht nur dort. Auch der Schweizer Peter Zumthor, einer der besten Architekten der Welt, hat für die Routen bereits zwei Projekte realisiert, darunter ein Museum, das sich mit der Arbeit einer stillgelegten Zinkgrube in der Schlucht Allmannajuvet beschäftigt, dazu ein kleines Café und das obligatorische Toilettenhäuschen. Das alles in einer Art Tempelanlage aus schwarzem Holz, archaisch und futuristisch zugleich, die es durchaus mit der Schönheit der Umgebung aufnehmen kann. Großmeister Zumthor eben.

Wobei es eine Ausnahme war, dass Zumthor und damit ein ausländischer Architekt beauftragt wurde. Eigentlich soll die Initiative die Talente des Landes fördern. Das gelingt auch deswegen, weil Teil der Vorgabe für die Architekten ist, bei ihrem Entwurf etwas auszuprobieren, Neues zu wagen und auch zu experimentieren.

Das Projekt soll auch dabei helfen, Einnahmen zu schaffen, wenn das Öl eines Tages versiegt

Stornes Gjertsen hat sich für die schmalen Pfade, die von seinem Gebäude hin zur Aussichtsplattform mit Sitzbänken führen, gleich ein neues Material einfallen lassen - hübsch matt glänzende Glasfasergitterroste aus recycelten Booten. Insgesamt drei Jahre hat er mit seinem Büro KAP an der Konstruktion des Toilettenhäuschens getüftelt. "Das ist natürlich viel Zeit für ein relativ kleines Gebäude", gibt er zu. Aber bei keinem Projekt habe er so viel und so konstruktiv mit dem Auftraggeber und den anderen Architekten aus der Jury darüber diskutieren können. Und nirgendwo sonst sei man so aufgeschlossen gewesen, neu entwickelte Materialien oder auch Konstruktionen auszuprobieren. "Wir geben den Architekten Zeit, zu experimentieren", sagt Ritzler dazu. Wer außergewöhnliche Gebäude will, muss eben auch außergewöhnlich aufgeschlossen für Neues sein - zumindest in Norwegen hat man diese Einsicht.

"Die Initiative hat eine neue Art zu denken hervorgebracht", sagt der Architekt Carl-Viggo Hølmebakk aus Oslo, der mit seinem Büro zwei Projekte dafür realisiert hat. Er ist überzeugt, dass die Norwegischen Landschaftsrouten - nicht zuletzt deswegen gestartet, um mit Einnahmen aus dem Tourismus für die Zeit zu sorgen, wenn irgendwann einmal das Öl in dem Land versiegt ist - dabei geholfen haben, die norwegische Architektur wiederzubeleben. "Es geht darum, neue Lösungen zu finden, um in der Natur zu bauen." Was bedeutet: Architektur zu schaffen, die es mit der Schönheit der Orte aufnehmen kann, ohne sie zu übertünchen. Die aber auch so widerstandsfähig ist, dass sie dem norwegischen Winter trotzt, genauso wie den vielen Besuchern. Und die nicht zuletzt den Balanceakt bewältigt, Natur zu erschließen, ohne sie zu sehr zu beeinträchtigen.

Gerade bei den von Hølmebakk entworfenen Brücken und Stegen um Vøringsfossen, einen 182 Meter hohen Wasserfall in Westnorwegen, gab es dahingehend Bedenken. Würde man mit der Architektur nicht dieses gewaltige Naturspektakel stören? Doch der Wasserfall gehörte bereits vorher zu einer der meistbesuchten Naturattraktion des Landes - was für die Touristen nicht ganz ungefährlich war. Ohne ausgewiesene Pfade wagten sich manche zu nah an den Abgrund, es gab Tote. Jetzt führt ein zartes Geländer sicher am Abhang entlang. Die Blicke über den Wasserfall, das Tal und den beginnenden Fjord sind nach wie vor berauschend - auch wenn man sie mit Dutzenden anderer Besucher teilen muss.

Reiseinformationen

Anreise: Flug mit Lufthansa, hin und zurück ab 250 Euro, www.lufthansa.com

Unterkunft: Das Hotel Ullensvang liegt an einer der Routen und wird schon in fünfter Generation von der gleichen Familie geführt. Von den Zimmern hat man einen wunderbaren Blick auf den Hadangerfjord. Die Umgebung hat schon Edvard Grieg zu Klavierstücken inspiriert, man kann aber auch ganz unkreativ einfach nur in den tiefen Sesseln des Hotels den Ausblick genießen. Doppelzimmer ab 136 Euro pro Person ohne Frühstück, www.hotel-ullensvang.no

Weitere Auskünfte: Alles zu den Norwegischen Landschaftsrouten gibt es unter www.nasjonaleturistveger.no/de; www.visitnorway.de

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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