Harvard:Ist es moralisch akzeptabel, Weinstein als Anwalt zu vertreten?

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Erstmals hat sich Ronald Sullivan nun selbst geäußert. In der "New York Times" schrieb er, Harvard habe "vor dem Protest kapituliert". (Foto: AP)
  • Ronald Sullivan lehrt an der Universität von Harvard Recht und gehört zum Team der Verteidiger von Harvey Weinstein.
  • Als diese Tatsache bekannt wurde, regte sich bei den Studierenden Protest. Kollegen der juristischen Fakultät setzten sich dagegen für Sullivan ein.
  • Erst kürzlich war die Eliteuniversität ins Zentrum einer moralischen Debatte gerückt, als es um die Ablehnung eines Bewerbers ging.

Von Christian Zaschke, New York

Ronald Sullivan hat getan, was Juristen gern tun: Er hat sich Zeit gelassen. Er hat gewartet, bis sich die Wogen geglättet haben. Er hat seine Argumente geschärft. Und nun hat er der Universität von Harvard, an der er Recht lehrt, man kann es nicht anders sagen: ordentlich den Marsch geblasen.

In einem Text in der New York Times äußert sich der Harvard-Professor Sullivan erstmals öffentlich dazu, dass er im Mai nach Studentenprotesten als Hausvorsteher des Winthrop House abgesetzt worden ist. 400 Studenten wohnen in dem Haus, Sullivan und seine Ehefrau Stephanie Robinson, die ebenfalls abgesetzt wurde, fungierten gewissermaßen als Ersatzeltern für die Studenten, sie waren Ansprechpartner in akademischen ebenso wie in persönlichen Fragen.

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Protestiert hatten sowohl Studenten aus dem Haus als auch anderswo auf dem Campus untergebrachte Kommilitonen. Grund: Der renommierte Strafrechtsprofessor Sullivan hatte einen Fall angenommen. Das macht er seit Jahrzehnten so. Er hat Mörder verteidigt, er hat Opfer sexueller Gewalt vertreten, in Hunderten Fällen hat er neben seiner Tätigkeit als Professor auch als Anwalt gearbeitet. Niemals gab es Protest. Dann aber wurde Anfang des Jahres bekannt, dass Sullivan zum Team der Verteidiger von Harvey Weinstein gehörte.

Ist es moralisch akzeptabel, Weinstein als Anwalt zu vertreten? Das fragen sich jetzt die Studenten

Dem vormaligen Hollywood-Produzenten Weinstein werden Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in vielen Fällen vorgeworfen. Ab September wird er sich in New York vor Gericht verantworten müssen. Nachdem die New York Times und das Magazin New Yorker im Herbst 2017 von den Vorwürfen gegen Weinstein berichteten, meldeten sich mehr und mehr Frauen zu Wort. Die Enthüllungen im Fall Weinstein gelten als Beginn der MeToo-Bewegung.

Harvey Weinstein ist als "Monster" bezeichnet worden, als "Raubtier", als "größtes Schwein Hollywoods". Nach allem, was man weiß, hat er seine Position über Jahrzehnte ausgenutzt, um sexuelle Gefälligkeiten zu erpressen und zu erzwingen. Weinstein bestreitet, jemals Sex ohne Einvernehmen gehabt zu haben. Der Fall wirft viele Fragen auf. Eine dieser Fragen ist für manche Studenten in Harvard, ob es moralisch akzeptabel ist, Weinstein als Anwalt zu vertreten.

Gleich nachdem bekannt wurde, dass Sullivan sich dem Team von Weinsteins Verteidigern angeschlossen hatte, regte sich Protest auf dem Campus. Studenten, die im Winthrop House untergebracht waren, berichteten, sie fühlten sich unsicher mit einem Hausvorsteher, der Weinstein vertrete. Manche sagten, dies löse Traumata in ihnen aus. Das Vertrauensverhältnis sei zerstört. Der Dekan des Harvard College, Rakesh Kurana, schrieb in einer E-Mail an die Studenten, dass er deren Sorgen sehr ernst nehme. Auf Gebäuden der Universität tauchten Graffiti auf. "Down with Sullivan", nieder mit Sullivan, las sich eins. "Whose side are you on?", ein anderes: Auf welcher Seite stehst du? Kurana kündigte an, er werde "das Klima" am Winthrop House untersuchen. Das war im Februar.

Viele Kollegen der Rechtswissenschaft äußerten sich zu dem Fall. Ihr Urteil für Harvard: vernichtend

Im März unterzeichneten 52 Mitglieder der Juristischen Fakultät der Universität einen offenen Brief, in dem sie darauf hinwiesen, dass Anwälte unbedingt Straftäter verteidigen müssten, auch jene, die besonders verachtet würden. Sie schrieben den Brief, weil sie ahnten, in welche Richtung sich die Sache entwickeln würde.

Im Mai wurden Sullivan und seine Frau, die ebenfalls Recht lehrt, von ihren Aufgaben als Hausvorsteher entbunden. Viele Kommentatoren der großen Zeitungen und viele Kollegen in der Rechtswissenschaft haben sich seither zu dem Fall geäußert. Fast einhellig fiel das Urteil für Harvard vernichtend aus. Auf eine Stellungnahme von Sullivan selbst wartete die akademische Welt bis zu dieser Woche.

Nun schreibt er, dass Harvard, eine der berühmtesten Universitäten der Welt, keinerlei Interesse an einer Diskussion über die Fakten gehabt habe. "Sie haben vor dem Protest kapituliert", schreibt er und fährt fort: "Wenn man bedenkt, dass Universitäten Orte der abgewogenen und zivilisierten Diskussion sein sollten, Orte, an denen Menschen dazu gezwungen sind, sich mit schwierigen, mit kontroversen und unvertrauten Gedanken auseinanderzusetzen, dann ist das enttäuschend."

Er berichtet, wie sein neun Jahre alter Sohn die Anti-Sullivan Graffiti auf dem Campus gesehen und gefragt habe, was da los sei. Er habe ihm gesagt, dass es manchmal schwierig sei zu erklären, warum auch Menschen, die man verachtet, ein Recht darauf haben, vor Gericht von einem guten Anwalt vertreten zu werden. Dass genau dies aber von essenzieller Bedeutung in einem Rechtsstaat sei.

Sullivan wirft der Universität vor, dass ein vernünftiges Gespräch nicht möglich gewesen sei. Die schiere Emotion habe jegliche Debatte unmöglich gemacht. Und er geht noch weiter. Er legt dar, dass er einen Trend ausmache, nämlich den, dass amerikanische Universitäten sich insgesamt dem rationalen Diskurs verschlössen und sich von Emotionen treiben ließen. "Wütende Forderungen und nicht stringente Argumente scheinen heutzutage die Politik an Universitäten zu bestimmen", schreibt er.

Harvard war erst kürzlich Zentrum einer anderen moralischen Debatte

In diesem Zusammenhang ist ein zweiter Fall interessant, der ebenfalls Harvard betrifft. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Universität die Bewerbung eines Schülers namens Kyle Kashuv abgelehnt hat, nachdem sie diese erst zugelassen hatte. Kyle Kashuv ist ein 18 Jahre alter Mann, der zu den Überlebenden des sogenannten "Schulmassakers von Parkland" gehört. Im Februar 2018 hatte ein ehemaliger Schüler an der Marjory Stoneman Douglas High School in Florida 17 Menschen erschossen, was - wie schon bei früheren Fällen - eine Diskussion über Waffenbesitz in den USA ausgelöst hatte.

Manche der Schüler wurden als Anti-Waffen-Kämpfer landesweit bekannt, darunter Emma Gonzalez und David Hogg. Kyle Kashuv setzte sich hingegen für mehr Waffenbesitz ein. Er sagte, seine Mitschüler wollten das gleiche wie er, aber eben mit anderen Mitteln. Das respektiere er.

Seinen Abschluss machte Kashuv als Zweitbester seines Jahrgangs und wurde in Harvard angenommen. Dann tauchten im Mai dieses Jahres Textnachrichten auf, die er als 16-Jähriger in einer Google-Gruppe mit Gleichaltrigen verfasst hatte, in denen er mehrmals das Wort "Nigger" benutzte. Unter anderem zwölfmal in einer einzigen Nachricht, versehen mit dem Hinweis, je öfter er es schreibe, desto besser werde er darin.

Kashuv hat sich nach dem Auftauchen der Textnachrichten mehrmals öffentlich entschuldigt. Man habe als Teenager in der Gruppe einfach versucht, etwas besonders Schockierendes zu schreiben, sagte er. Kashuv schrieb an Harvard und bat um eine zweite Chance. Er fragte, ob die Institution ihm nicht helfen könne, ein besserer Mensch zu werden. Die Institution lehnte ab. Sie entzog dem heute 18 Jahre alten Kashuv den Studienplatz.

Die meisten Medien gaben Harvard in dem Fall recht. Wer das Wort "Nigger" verwende, und sei es als 16-Jähriger, habe an einer Elite-Uni nichts verloren, so der Tenor. Die "Late-Night-Show" mit Trevor Noah verhöhnte Kashuv: Er bekomme nun sicherlich ein Stipendium an der Trump-Universität - wer das N-Wort zwölfmal hintereinander schreibe, sei dafür qualifiziert. Aber es gab auch andere Stimmen. Manche Kommentatoren fragten, ob es nicht gerade die Aufgabe von Universitäten wie Harvard sei, hochbegabte Menschen, die als Teenager so erkennbar furchtbaren Blödsinn redeten, zu erziehen. Sei nicht mehr noch als die Vermittlung von Wissen die Vermittlung von Werten die Aufgabe dieser Stätten der Bildung?

Die Fälle von Ronald Sullivan und Kyle Kashuv sind allenfalls peripher miteinander verwandt. Doch beide rücken Harvard ins Zentrum einer Debatte darüber, was im liberalen Amerika erlaubt ist und was nicht. Was tolerierbar ist, wo die Grenzen der Diskurse verlaufen. Es sieht allerdingsganz so aus, als würde die älteste und vielleicht renommierteste Universität der USA auf diese Frage derzeit auch keine Antwort wissen.

© SZ vom 27.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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