9. Oktober:Groll Over Beethoven

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Ein geplanter Auftritt Gregor Gysis in Leipzig zum Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution 1989 weckt Protest. Bürgerrechtler kritisieren, Gregor Gysi sei damals Vertreter der Partei gewesen, gegen die sich die Demonstrationen richteten.

Von Cornelius Pollmer, Leipzig

Maestro Michael Köhler erinnert sich noch, wie der große Kurt Masur ihm einmal sagte: Setze alle, die sich streiten, in einen Konzertsaal, spiele eine Beethoven-Sinfonie, und sie haben sich wenigstens eine Stunde mal nicht gestritten. Im Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution allerdings ist die Gefahr groß, dass die Streitenden erst gar nicht ins Konzert kommen. Seit fünf Jahren gibt die Philharmonie in Leipzig Beethovens Neunte am 9. Oktober als, so sagt es Chefdirigent Köhler, "Wort-Musik-Konzert zur Versöhnung". Das Konzept sei, "die humanistische Botschaft von Beethoven mit Zeitzeugen-Berichten zu verbinden". In diesem Jahr plant Köhler mit dem Zeitzeugen Gregor Gysi - und deswegen gibt es nun so viel Streit, dass an Versöhnung erst mal nicht zu denken ist.

Der Streit hat zu tun mit der Person Gysi, wie er zu tun hat mit dem Datum seiner geplanten Rede. Der 9. Oktober ist nicht nur für Leipzig ein besonderer Tag. 70 000 demonstrierten 1989 friedlich und systemerschütternd zu einem Zeitpunkt, als noch nichts gewonnen und keine Sicherheit da war. Dieser 9. Oktober ist nicht nur, aber auch ein Symboldatum, und deswegen empören sich frühere DDR-Bürgerrechtler nun in einem offenen Brief, dass "ausgerechnet Gregor Gysi" an diesem Tag in dieser Stadt ein Podium geboten werden solle, Gysi, dem letzten Vorsitzenden der SED und späteren "Multifunktionär der Linkspartei". Weiter heißt es: "Wir können nicht glauben, dass die Geschichtsvergessenheit bereits so weit fortgeschritten ist, dass nun schon diejenigen zu Festreden eingeladen werden, die Revolution und Einheit (...) zu verhindern suchten."

"Es ist ein riesiger Rummel jetzt, mit Missverständnissen, niemand spricht mit niemandem."

Ein Sprecher Gysis sagte, es sei nicht dessen Stil, auf offene Briefe zu antworten. Gysi halte "die Angst einiger, dass ihnen ihre Bedeutung und 'ihre' Revolution gestohlen werden soll", für unbegründet - und im Übrigen solle man dieses und jenes bitte nicht vergessen, etwa, dass Gysi seinerzeit auch das Neue Forum anwaltlich vertreten habe und dass er erst im Dezember 1989 zum Vorsitzenden der SED gewählt worden sei. Michael Köhler wiederum sagt, das Konzert sei kein Festakt und die Rede Gysis folglich keine Festrede. Er sorgt sich, mit der Idee Versöhnung nicht mehr durchzudringen, denn "es ist ein riesiger Rummel jetzt, mit Missverständnissen, und niemand spricht mit niemandem".

Und die Empörten? "Wir sind jetzt bei etwa 600 Unterschriften, und stündlich kommen neue hinzu", sagt der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk, einer der Urheber des Briefes. Er wolle, sagt Kowalczuk, die historischen Leistungen Gysis in keiner Weise schmälern, und niemand habe etwas dagegen, wenn mit ihm eine Veranstaltung "wann und wo und mit wem auch immer" angesetzt werde. Es gehe ihm und den Unterzeichnern darum, dass Gysi einzig und gerade diesen 9. Oktober nicht usurpiere. "Nicht nur, dass Gysi am 9. Oktober nicht mit auf der Straße war, nein, er stand auf der anderen Seite - die Partei, die er schon damals vertreten hat, gegen die richtete sich diese Demonstration". Im Westen sei noch lange nicht angekommen, dass der Tag der Revolution nicht der 9. November gewesen sei, sondern der 9. Oktober, sagt Kowalczuk. Er sei dagegen, dass Feierlichkeiten wie zum Beispiel das jährliche Lichtfest der Stadt durch "solche Gegenveranstaltungen gewissermaßen beeinträchtigt" würden. Die große Resonanz auf den offenen Brief deutet Ilko-Sascha Kowalczuk positiv. Er sehe Anzeichen dafür, "dass wir uns die Geschichtsdeutung über die ostdeutsche Revolution zurückholen und das nicht den Gysis überlassen oder denen, die nur an Kohl denken und an Genscher und den 9. November".

© SZ vom 01.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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