Plowdiw in Bulgarien:Eine Stadt reißt Mauern ein

Das römische Amphitheater von Plowdiw wird für Konzerte genutzt.

Das historische römische Theater der Stadt Plowdiw wird für Konzerte genutzt.

(Foto: Todor Dimitrov Dimitrov)

Plowdiw präsentiert sich als lebendige und liebenswerte Kulturhauptstadt. Die Bewohner sind stolz - und wollen noch mehr.

Von Viktoria Großmann

Stanimir Kronev läuft über krumm getretene Pflastersteine, vorbei an den bunten Häusern reicher Händler aus dem 19. Jahrhundert und beschwert sich. "Viel zu viel kyrillisch. Welcher Besucher soll das verstehen?" Der 30-jährige Journalist hat länger im Ausland gelebt und findet, Bulgarien könnte etwas westlicher sein. Vor allem seine Heimatstadt Plowdiw, noch dazu in diesem Jahr, in dem zum ersten Mal eine bulgarische Stadt den Titel Europäische Kulturhauptstadt trägt. Fünf Jahre Vorbereitung, bis Plowdiw den Titel erhielt. Nochmals fünf Jahre Arbeit, bis sich die Stadt so präsentieren kann, wie sie heute ist.

Die Linden duften, hier und da schiebt sich zwischen den alten Mauern ein Feigenbaum auf die Straße. Kronev ist streng mit seiner Heimatstadt. Einheimische sind vielleicht so. Besuchern erschließt sich die Schönheit der Stadt auch ohne kyrillische Schrift und Bulgarisch sofort. Man muss nur sehen und gehen. Auf einen ihrer sechs Hügel. Oder ins römische Theater, das ganz selbstverständlich für Konzerte genutzt wird. Durch die verwinkelte Altstadt. Einige der Häuser schmücken Ornamente im osmanischen Stil, innen sind sie meist nach westeuropäischer Mode eingerichtet. Sich in Plowdiw zu verlieben, ist leicht. Den Stadtmarketing-Spruch "I'm in pLOVEdiv" findet man schon nach einem ersten Spaziergang nicht mehr albern, sondern einfach richtig.

Plowdiw, zweitgrößte Stadt Bulgariens nach der Hauptstadt Sofia, liegt etwas südlich der Mitte des Sieben-Millionen-Einwohner-Landes am Fluss Maritsa. Das Flussufer wird am 3. und 4. August zum Schauplatz eines Festivals. Im Süden der Stadt liegen die Rhodopen, im Norden das Balkangebirge. Seit 8000 Jahren ist diese Gegend besiedelt. Die Thraker waren hier, die Römer, die Griechen. Plowdiw versteht sich - noch mehr als das gesamte Land - als eine vielfältige Gesellschaft. Eine, in der seit Jahrhunderten Muslime, Armenier, Juden, Griechen und Roma ihren Platz unter der bulgarisch-orthodoxen Mehrheitsgesellschaft haben.

Ob der Islam nun zu Europa gehört oder nicht, das ist ohnehin eine müßige Frage. Eine sehr überzeugende Antwort steht im Zentrum Plowdiws: eine gut besuchte Moschee aus dem 15. Jahrhundert. Erbaut auf den Trümmern einer Kathedrale, die wiederum auf den Resten eines römischen Stadions stand. Dieses ist heute teilweise wieder freigelegt - am 22. Juli spielt hier das Balkan-Jugendsinfonieorchester "Progressive" mit Jugendlichen aus ganz Südeuropa.

"Zusammen" lautet das Motto der Kulturhauptstadt, es hat die Jury überzeugt. Aber nicht unbedingt alle Einheimischen. Roma sind in der Stadt außer als Straßenfeger kaum sichtbar. Sie leben in einem eigenen Stadtteil. "Lernen von Stolipinovo" heißt ein Projekt zweier Deutscher, das sich dem Viertel und seinen Menschen widmet - im Juli wird es vorgestellt. Es soll eine Verbindung schaffen zwischen den Parallelgesellschaften.

Plowdiw ist eine Stadt im Aufschwung, die Bewerbung um die Kulturhauptstadt hat daran ihren Anteil. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 3,4 Prozent. Das Roma-Viertel ist in die Statistik nicht eingerechnet. Dort sind 90 Prozent arbeitslos. Daher sind auch nicht alle zufrieden mit der Richtung, in die dieser Aufschwung geht. Er nehme nicht alle mit und sei zu gewinnorientiert, kritisiert Journalist Kronev. Er will den "Spirit von vor fünf Jahren" zurück.

Er ist jetzt im Viertel Kapana angekommen. Das Viertel, das über Jahrhunderte den Handwerkern gehörte, war noch bis vor zehn Jahren grau und verfallen, wurde allenfalls als Parkplatz genutzt. Dann kam die Bewerbung um die Kulturhauptstadt. Einige Engagierte überzeugten die Stadt, als Vermieter aufzutreten. Die Kommune mietete die Erdgeschossflächen von den Privateigentümern an und überließ sie für ein Jahr kostenlos, dann zu geringer Miete Kunsthandwerkern, Galeristen, Kreativen, die sich bewerben mussten.

Kreativquartier Kapana Strassencafe im Abendstimmung im Kreativquartier Kapana in Plowdiw 25 10 201

Das Stadtviertel Kapana hat sich zum Treffpunkt für junge Leute entwickelt.

(Foto: Robert B. Fishman/Imago/Ecomedia)

Mittlerweile haben die Hausbesitzer erkannt, dass sie mit ihren Räumen Geld verdienen können. Das tun sie dann auch. Die ersten Galerien ziehen wieder aus, Bars und Burgerläden hinein. Kronev ist enttäuscht von dieser Entwicklung. Manchmal geht es mit der Verwestlichung auch zu schnell. Ein dreitägiges Straßenfest geht gerade zu Ende. Organisator Nikola Sivkov, ein Freund Kronevs, kommt vorbei. "Es ist zu kommerziell geworden", sagt er bedauernd. Er war mit seinem Laden für Design-T-Shirts einer der ersten im Viertel. Der Erfolg von Kapana ist trotzdem unbestritten. Das lebhafte Viertel hat großen Anteil an Plowdiws Beliebtheit.

Zurück in die Heimat

Bulgarien kämpft darum, dass junge Menschen in ihrer Heimat bleiben oder zurückkommen. Plowdiw, da sind sich die Bewohner einig, schafft das besser als andere Orte im Land. Denn in Plowdiw geht es "ajlak" zu, gelassen. Plowdiw hat Lebensart. Asja Vladimirova hat das in Sofia gefehlt. Vor zwei Jahren gab die Juristin ihre Arbeit in einer internationalen Kanzlei auf und kehrte zurück in ihre Heimatstadt.

Im Kapana-Viertel eröffnete sie eine Bar. Aber nicht nur. Sie brachte ihrer Stadt den Swing-Dance. Die zarte, dunkelhaarige Frau liebt den Stil der Zwanzigerjahre, die Drinks in ihrer Bar sind an die Zeiten der Prohibition angelehnt. Jeden Donnerstag ist Tanzabend. Außerdem hat sie eine Tanzschule etabliert. Im Oktober folgt das zweite Swing-Dance-Festival - und die ganze Stadt wird zur Bühne. Vladimirova schwärmt von der Atmosphäre ihrer Stadt, von dem, was hier möglich ist. "Dieses Viertel ist in den vergangenen Jahren aufgewacht. Die Leute kommen aus Sofia hierher zum Ausgehen."

Ausgehen, Handwerk und eine Mission verbindet auch Elisabeth Porteva in ihrer Weinbar De-Gusto-Station zwei Straßen weiter. Die 29-jährige Winzerin ist in den Familienbetrieb Bendida hineingewachsen und hat in Plowdiw studiert. Die Weinkeller liegen knapp außerhalb der Stadt. Gekeltert werden nur Weine aus bulgarischen Trauben. Mavrud und Rubin für die Rot- und Roséweine, Vrachanski Misket für die Weißen.

"Anfangs waren die Leute enttäuscht, wenn ich keinen Sauvignon Blanc oder Merlot hatte", erzählt sie. "Ich musste sie überzeugen, dass unsere Sorten gut sind." Porteva will alte Sorten retten. Einige Weinbauern hätten bereits Rebstöcke bulgarischer Sorten herausgerissen, um die bekannteren Weine anzubauen. Porteva überredet sie, die alten Sorten zu pflegen.

Die Winzerin schwenkt einen ungefilterten Weißwein im Glas. Er duftet nach Blüten, nach Früchten, nach einem Frühsommernachmittag auf dem Land. Der Wein schmeckt, wie er riecht. Elisabeth sagt: "Dieser Wein spricht mit dir." Weine, Steine, Mauern, Säulen, Mosaike - die ganze Stadt redet. Kronevs Sorge um unverständliche Schilder erscheint völlig unberechtigt. In Plowdiw kann man nicht einmal in den H&M gehen, ohne gleich in einen Rest eines römischen Stadions zu stolpern.

Plowdiw in Bulgarien: Ornamente im osmanischen Stil schmücken viele Häuser in der Altstadt. Innen sind sie aber meist westeuropäisch eingerichtet.

Ornamente im osmanischen Stil schmücken viele Häuser in der Altstadt. Innen sind sie aber meist westeuropäisch eingerichtet.

(Foto: Mauritius Images/Zoonar GmbH)

Stefan Stoyanov ist auch deshalb unheimlich stolz auf diese Stadt. Er ist stellvertretender Bürgermeister, da gehört es wohl fast zur Arbeitsbeschreibung, stolz zu sein. Aber er hat auch das Potenzial der Stadt erkannt und versucht, es zu nutzen. Plowdiw, das schon immer ein wichtiger Ort für Handel und Messen war, hat sich zu einem Standort für IT-Firmen entwickelt. Außerdem gibt es Automobilzulieferer und Fahrradbauer, das Wirtschaftswachstum ist enorm. Mitarbeiter finden die Firmen unter den 40 000 Studenten der verschiedenen Hochschulen in der Stadt.

Stoyanov umgibt sich in seinem Büro mit Werken Plowdiwer Künstler. Auch dafür ist die Stadt berühmt. Nein, sagt er, es ist nicht alles pünktlich fertig geworden. Die Kunsthalle wird wohl erst im Herbst eröffnet. Zwischen der zentralen Hauptpost und dem Park klafft auch eine riesige Baustelle, dort werden noch ein paar römische Schätze freigelegt - Relikte eines Forums.

So gesehen ist Plowdiw allerdings niemals fertig. Wer hier und in der gesamten weiteren Umgebung zu graben anfängt, kann damit rechnen, noch einen Grabhügel der Thraker oder eine Villa der Römer zu finden. Den Goldschatz der Thraker, der zur Feier des Kulturhauptstadtjahres aus Museen des ganzen Landes im Archäologischen Museum Plowdiw zusammengetragen wurde, fanden Bauern in den Zwanzigerjahren auf ihren Feldern.

Der Weg zum Titel war nicht einfach. Mariana Tscholakova, in Deutschland promovierte Philosophin und deutsche Honorarkonsulin, hat ihn von Anfang an begleitet. Sie hat mit einer kleinen Gruppe engagierter Bürger diese Bewerbung auf den Weg gebracht. Manch einer dachte, am Ende entscheidet ein Bürgermeister darüber, wer den Titel bekommt, und Sofia gewinne sowieso. Aber es ist eine Jury der EU im fernen Brüssel, die entscheidet.

Mauern habe sie einreißen wollen, sagt Tscholakova in ihrem kleinen Büro zwischen Altstadt und Moschee mit dem Bundesadler über der Tür. Dann kam sie am Tag vor der Anreise der EU-Delegation ins Roma-Viertel Stolipinovo und sah zwei Jungs eine Mauer um den Tagungsort aufbauen - zum Schutz. "Sonst werden da drin die Stühle geklaut", erklärten sie. Tscholakova nahm es mit Humor und baute die Szene in ihre Rede vor den Besuchern aus Brüssel ein.

Zusammengebracht hat die Bewerbung nicht nur die Minderheiten der Stadt, sondern auch die Bulgaren und Westeuropa. "Keiner dachte, dass wir das schaffen können", sagt Tscholakova. Das Land ist gebeutelt von tief verankerter Korruption, mafiösen Politikern, einer schwerfälligen Bürokratie, der Abwanderung der Jungen und Gebildeten, Armut und mangelnder Pressefreiheit. Selbst die Generation der zwischen 30- und 40-Jährigen wie Bürgermeister Stoyanov und Journalist Kronev wird nicht müde, zu betonen, dass das Land im Kommunismus 45 Jahre Unfreiheit erlebte. Das zu überwinden dauert. Philosophin Tscholakova ist zuversichtlich. "Durch die Bewerbung um die Kulturhauptstadt haben wir Selbstbewusstsein gewonnen." Aber vor allem, sagt sie zum Abschied, hätten die Leute gelernt, "dass sie etwas verändern können, wenn sie sich selbst engagieren".

Reiseinformationen

Reisearrangement: Wikinger-Reisen bietet Wanderreisen mit Besuch der Kulturhauptstadt Plowdiw an. Etwa eine achttägige Reise mit Übernachtung in Sofia und Besuch des Thraker-Grabs in Kasanlak sowie des Klosters Batschkowo, www.wikinger-reisen.de

Anreise: Lufthansa fliegt täglich etwa von München oder Frankfurt nach Sofia. Von dort mit Bus, Bahn oder Mietauto nach Plowdiw, etwa zwei bis drei Stunden Fahrt. Direktflüge ab Frankfurt-Hahn.

Übernachten: Altstadt-Hotel Alafrangite, einfach, ruhig gelegen mit Restaurant und hübscher Terrasse, www.alafrangite.eu

Weitere Auskünfte: Tourist-Info in der Fußgängerzone gegenüber der Moschee, täglich geöffnet. plovdiv2019.eu/en und www.visitplovdiv.com

Ausgehen: Innenstadt: Restaurant Smokini, Monroe Bar. Kapana: Gingertale Bar, deGustoStation.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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