England bei der Fußball-WM:Euphorie bis nach Glastonbury

Frauenfußball-WM - Norwegen - England

Englands Spielerinnen feiern das 3:0 gegen Norwegen.

(Foto: dpa)
  • Die Liga wird immer besser, die Nationalmannschaft steht erstmals in einem WM-Halbfinale. England macht in Sachen Frauenfußball riesige Fortschritte.
  • In der Heimat werden die Spiele der Lionesses selbst auf dem Musikfestival in Glastonbury übertragen.
  • Vor dem Halbfinale gegen Top-Favorit USA sorgt ein Spionage-Vorfall für Verstimmung.

Von Anna Dreher, Rennes

Hope Solo will ihre Gedanken nicht vor der Öffentlichkeit zurückhalten, sie kennt diese Mannschaft wie nur wenige andere - eine Mannschaft, die schon vor der WM in Frankreich als großer Favorit galt und sich bisher unaufhaltsam in Richtung Titel gespielt hat. Solo war 16 Jahre lang Torhüterin der amerikanischen Fußball-Auswahl, bis zum Karriereende 2016 galt sie als eine der Besten der Welt. Für die WM hat sie nun aber die Seiten gewechselt: vom Rasen auf die Medientribüne, vom Team USA zum Team UK. Solo, 37, arbeitet als TV-Expertin für die BBC und schreibt Kolumnen für die Zeitung Guardian. Und weil ihr Abschied vom US-Team nicht gerade friedlich verlief, äußert sie gerne Kritik und gibt dem Gegner Tipps. Wie jetzt vor dem Halbfinale zwischen den USA und England am Dienstag in Lyon, das allein von der Athletik her eines der intensivsten WM-Spiele werden dürfte.

"England kann die USA schlagen. So ungern ich es auch sage, mein Rat an Phil Neville ist: direkt draufgehen!", schrieb Solo: "Die meisten Teams wollen attraktiv spielen, aber die USA wissen, wie sie gegen solche Teams verteidigen müssen. Um zu gewinnen, muss man die USA mit ihrer fehlenden Geschwindigkeit in der Verteidigung erwischen. Und um das zu tun, muss man schnell und direkt spielen." England dürfe nur nicht in Rückstand geraten, denn dann würden die USA das Spiel dichtmachen. Englands Nationaltrainer Neville, 42, konterte, auf Solo angesprochen, mit einem Lächeln: "Mein Stil ist nicht verhandelbar, tut mir leid, ich bin etwas stur. Ich möchte, dass wir den Ball haben und ihn in Bewegung halten. Wir glauben, dass das der beste Weg ist, um Erfolg zu haben."

Die Stimmung vor dem Anpfiff? Leicht angespannt

Vor dem Spiel, das Englands Fußballerinnen bei einem Sieg das beste Abschneiden bei einer WM bescheren würde, war Neville zudem mit mutmaßlicher Spionage beschäftigt. Denn während Solo ihre Einschätzungen in der britischen Presse darlegte, wollten offenbar auch die USA bestens informiert sein über den Gegner. Und damit sorgten sie für einen Skandal, über den sich der englische Verband FA höchst empört. Laut Guardian seien US-Teammitglieder am Sonntagmorgen in nicht-offizieller Kleidung in Hotelräumen der englischen Mannschaft erwischt worden, während diese trainierte. "So etwas würden wir nicht tun, aber das ist ihr Problem", sagte Neville, der frühere Manchester-United-Profi: "Es wird keine Auswirkungen aufs Spiel haben. Um ehrlich zu sein: Ich fand es witzig. Ich habe nur gedacht: Was machen die da? Das gehört sich nicht!"

US-Trainerin Jill Ellis, die bis zu ihrem 15. Lebensjahr in England aufwuchs, erklärte zu dem Vorfall, das Hotel sei lediglich als potenzielle Unterkunft für das Finale am Sonntag begutachtet worden - von der Teamadministratorin und deren Chef: "Ich nehme an, dass das jeder so macht", sagte Ellis, "du musst planen, das gehört zur Vorbereitung des Staffs. Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, wie wir überhaupt nach Lyon kommen würden."

Die Stimmung war also schon vor dem Anpfiff leicht angespannt, es geht in Lyon ja auch um viel. Wer ins Finale einzieht und sich die Chance auf den Titel erhält - es wäre Nummer vier für die USA oder die Premiere für England - sendet ja nicht weniger als das Zeichen: Wir sind die beste Nation der Welt im Frauenfußball! Die USA haben dieses Label schon das ganze Turnier über mit dem größten Selbstverständnis getragen, als Rekordweltmeister mit beeindruckender Präsenz auf dem Platz. Die Mannschaft um Megan Rapinoe und Alex Morgan gilt als (fast) unschlagbar. Vielleicht aber schafft es England, das Gegenteil zu beweisen - und die Euphorie, die auf der Insel ohnehin herrscht, weiter zu steigern.

Englands Viertelfinale gegen Norwegen wurde zum Beispiel auf dem Glastonbury Musikfestival übertragen, einem der größten weltweit. Neville sagte zur Resonanz in der Heimat, er hätte bei seinem Amtsantritt vor 18 Monaten "niemals vorhergesehen, dort zu sein, wo wir heute sind. Es ist wirklich explodiert! Die WM hat geholfen - aber du hast keine Explosion ohne eine solche Qualität auf dem Platz!"

Englands Frauen-Liga ist in Europa die einzige vollprofessionelle, Klubs wie Arsenal oder Manchester City investieren verhältnismäßig viel Geld. Mit Infrastruktur, Marketing und gesellschaftlichem Standing setzt England inzwischen Maßstäbe; immer mehr Spielerinnen denken über einen Wechsel auf die Insel nach, weil sich dort so viel tut. Und die Entwicklung der Liga zeigt sich auch im Nationalteam.

Die Stärke speist sich aus der Ruhe

Die Lionesses haben mit ihrem schnellen, physischen, flexiblen Spiel alle fünf WM-Partien gewonnen, mit 11:1 Toren; vor allem das 3:0 gegen Norwegen gab einen ordentlichen Selbstvertrauensschub. Diese Stärke speist sich auch aus einer City-Achse: Torhüterin Karen Bardsley, Verteidigerin Steph Houghton, Mittelfeldspielerin Jill Scott und Stürmerin Ellen White - mit fünf WM-Toren gleichauf mit Sam Kerr (Australien) sowie den US-Stars Rapinoe und Morgan - spielen alle in Manchester. Insgesamt hat Neville schon 22 von 23 Spielerinnen eingesetzt, was die Breite des Kaders belegt. Die Stärke speist sich aber auch aus der Ruhe, die Neville ausstrahlt - und aus seinem zuletzt von Lucy Bronze (Olympique Lyon) gelobten Ansatz, mehr auf Psychologie einzugehen, statt die Spielerinnen mit Taktik zu überfrachten.

Im März trotzten die Britinnen den USA beim "SheBelievesCup" ein 2:2 ab, am Ende gewannen sie das Turnier. Jetzt, nach dem klaren Sieg gegen Norwegen, drehte sich Phil Neville zu seinen Spielerinnen um - und fragte: "Seid ihr bereit, die Weltmeisterschaft zu gewinnen?" Nein gesagt hat niemand.

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