EU:Merkel bekommt ihre Grenzen aufgezeigt

Gefährliche Stunden für den Kontinent: Die Kanzlerin kann die Fliehkräfte in der EU kaum mehr bändigen - und Macron riskiert den offenen Bruch.

Kommentar von Stefan Kornelius

Frankreichs Präsident ist ein seltsamer Oberlehrer: Erst räumt Emmanuel Macron mit der Idee auf, dass nur Spitzenkandidaten der Europawahl Anspruch auf den Job des Kommissionspräsidenten haben. Dann bescheinigt er dem Europäischen Rat, bei der Suche nach neuem Personal "einen sehr schlechten Eindruck" hinterlassen und "versagt" zu haben. Das ist heuchlerisch und falsch. Heuchlerisch, weil Macron zur Lage maßgeblich beigetragen hat. Falsch, weil Europa keinen schlechten, sondern einen ehrlichen Eindruck hinterlässt.

Die EU funktioniert nach einem höchst komplizierten System von Geben und Nehmen, sie verfügt über ein mehrschichtiges Entscheidungssystem mit ineinander verschachtelten Machtzentren. Der Rat, Gremium der Staats- und Regierungschefs, ist ebenso demokratisch legitimiert für die Personalsuche wie das Parlament. Hier wird nicht in Hinterzimmern gemauschelt, dies ist der normale Entscheidungsprozess. Man muss ihn nicht mögen, aber es gibt keinen besseren.

Die Fliehkräfte in der EU haben nun allerdings ihr wichtigstes Gremium erreicht, den Rat als letzten und wichtigsten Ort für den europäischen Kompromiss. Ohne Kompromiss wird Europa nicht bestehen können. Insofern ist die zähe Suche nach dem Personal Beleg für den schlechten Zustand der Gemeinschaft, aber noch kein Grund zur Panik.

Über den Zustand wird in den kommenden Stunden ein abschließendes Urteil gefällt. Die Staats- und Regierungschefs können sich auf der Suche nach dem Kommissionspräsidenten zwar noch einmal vertagen, sie können die Wahl des Parlamentspräsidenten den Abgeordneten und damit dem freien Spiel der Kräfte überlassen - aber sie würden sich damit selbst delegitimieren und ihr vertraglich garantiertes Vorschlagsrecht entwerten.

Die EU ist immer schwerer zu führen und zusammenzuhalten

Die Suche nach den geeigneten Figuren zur Führung der Europäischen Union zeigt also genau dies: Die EU ist immer schwerer zu führen und zusammenzuhalten. Die Interessen zwischen Nationalstaaten und dem Gemeinschaftsapparat, zwischen Nord und Süd, Ost und West, großen und kleinen Staaten und am Ende auch die Geschlechterparität - diese Gleichgewichtsübung ist kaum mehr zu meistern. Bundeskanzlerin Angela Merkel bringt nicht mehr genug Kraft mit, um die widerstrebenden Kräfte zu bändigen. Mehr noch: Auch weil sie die Gemeinschaft über Jahre dominiert hat, zieht sie nun den Widerstand auf sich.

So gerät die Findungsphase für das neue Personal zu einem Test über den künftigen Charakter der EU. Scheitert der Rat und überwiegen die Fliehkräfte, dann werden die Mitgliedsstaaten die bisherige Form der Zusammenarbeit beenden müssen. Dann schlägt die Stunde eines neuen Europas. Macron übrigens redet seit Monaten von dieser der neuen EU, von der "Avantgarde" und dem "Kern" - was letztlich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bedeuten würde, eine Aufspaltung der EU und letztlich einen Bruch. Er sollte vorsichtig mit seinen Wünschen hantieren. Am Ende werden sie Wirklichkeit. Europa würde davon nicht profitieren.

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Leserdiskussion
:Kann Merkel die EU zusammenhalten?

Die zähe Suche nach neuem Spitzenpersonal ist ein Beleg für den schlechten Zustand der Gemeinschaft, kommentiert SZ-Autor Stefan Kornelius. Und Bundeskanzlerin Merkel bringe nicht mehr genug Kraft mit, um die widerstrebenden Kräfte zu bändigen.

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