Vera Lengsfeld:Im Widerstand gegen die "Gesinnungsdiktatur"

Vera Lengsfeld 2006 im Berliner Abgeordnetenhaus

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld nimmt 2006 im Abgeordnetenhaus in Berlin an einer Lesung ehemaliger Stasi- und NKWD-Häftlinge teil.

(Foto: Steffen Kugler/dpa)
  • Vera Lengsfeld war eine der bekanntesten Figuren der DDR-Bürgerrechtsbewegung und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
  • Heute warnt sie vor einer Unterwanderung des Rechtstaates durch linke Kräfte und der Rückkehr von DDR-Strukturen.
  • Nach der Wende kam heraus, dass ihr eigener Ehemann sie für die Stasi bespitzelt hatte.

Von Philipp Bovermann

Würde die Geschichte von Vera Lengsfeld funktionieren wie ein klassischer Roman, hätte sie im Jahr 1989 geendet. Mit dem Mauerfall hätte alles einen Sinn ergeben, was die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und der von ihr mitgegründete "Friedenskreis Pankow" aushalten mussten. Die gegen sie gerichteten "Zersetzungsmaßnahmen", von denen in den Operationsberichten der Staatssicherheit die Rede ist, die Verhöre, die Psychospielchen, die Hausdurchsuchungen, all das wäre mit einem Schlag als notwendiger Teil eines großen Plans erschienen, der letztendlich wider alle Hoffnung aufgegangen ist, so vollständig, dass man danach eigentlich nur noch den Buchdeckel drauflegen kann. Aber das Leben geht weiter.

Dreißig Jahre später, sie ist inzwischen 67 Jahre alt, wohnt Vera Lengsfeld noch immer in Berlin-Pankow. Sie hat wenig Zeit, viele Termine, sie steht unter Druck, sagt sie. Jüngst wurden Aufkleber rings um ihr Mietshaus angebracht. "Lengsfeld, halt's Maul! Kein Podium für rechte Hetze!", steht darauf, unterschrieben von der Antifa. An der Fassade des Jugendklubs gegenüber ihrer Wohnung hängt eine "Refugees Welcome"-Fahne. Jürgen Trittin ist einer ihrer Nachbarn. Pankow wählt grün-rot. Und Vera Lengsfeld lebt in der Dissidenz. Mal wieder.

Im vergangenen Jahr hat sie die "Gemeinsame Erklärung 2018" initiiert. Darin heißt es: "Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird."

Etwa 65 000 Menschen unterschrieben die Petition zur "Gemeinsamen Erklärung 2018", Lengsfeld durfte daraufhin vor dem Petitionsausschuss des Bundestages sprechen. Sie erschien in einem schwarzen Kleid und mit finsterer Miene, als wohne sie der Beerdigung der Demokratie bei. Mit erhobenem Zeigefinger betonte sie, es gehe ihr um die "illegale!" Migration und die "friedlichen!" Proteste dagegen.

Nach der Wiedervereinigung saß sie selbst im Bundestag, zunächst für die Grünen, dann, als diese sich aus ihrer Sicht zu sehr an die PDS anbiederten, für die CDU. Aber auch die wurde ihr zunehmend zu links. Heute ist sie zwar noch einfaches CDU-Mitglied, Angela Merkels Politik aber findet sie inzwischen "linksradikal".

Lengsfeld kopiert Merkel: Dekolleté für die Wahl

Vor der Bundestagswahl 2009 zeigte Lengsfelds eigenes Wahl-Plakat noch eine Fotomontage von ihr und Bundeskanzlerin Angela Merkel.

(Foto: Alina Novopashina/dpa)

Lengsfeld trägt schon wieder ein schwarzes Kleid, diesmal ein Sommerkleid, als sie an einem heißen Junitag die Tür zu ihrer Wohnung öffnet. Über ihrem Wohnzimmertisch hängt ein aus schwarzen Kreisen und Strichen bestehendes Ölgemälde.

Ob sie sich heute frei fühlt? "Na klar, ich mache ja, was ich will." Auch von der Antifa lasse sie sich in ihrer Freiheit nicht einschränken. Trotzdem hat sie Anzeige erstattet wegen der "Halt's Maul!"-Aufkleber. "Und dann schreibt mir der Staatsanwalt: 'Wer, wie Sie, die Antifa kritisiert, der muss das aushalten.' Ja, hallo Rechtsstaat? Dabei ist das Schmähkritik, die eigentlich verboten ist!" Nur wenige Sätze hat es gedauert, um von der Freiheit in Richtung unterdrückte Freiheit abzubiegen.

Lengsfeld schreibt heute viel, für rechtskonservative Medien wie Junge Freiheit oder Achse des Guten. Eine Ausgabe von Tichys Einblick, ein Magazin aus einem ähnlichen politischen Spektrum, liegt auf ihrem Couchtisch. In ihren Artikeln warnt sie vor einer linken "Gesinnungsdiktatur", vor der Schikane "Andersdenkender", vor einer Rückkehr der "DDR 2.0". "Kader", "Herrschaft", "Untertan" - wenn sie redet, mehr noch, wenn sie schreibt, hantiert Lengsfeld ganz selbstverständlich mit panzerschweren Begriffen. Rhetorisch ist bei ihr immer Krieg. Kantig und klobig liegt die politische Wirklichkeit da, entkleidet von vermeintlicher Schönrednerei, "politischer Korrektheit", oder eben: "Propaganda", in ihren Worten.

"Freedom is not free"

Was hält sie von der AfD? "Solange die Leute wie Gauland und Höcke in ihren Reihen haben, ist sie nicht akzeptabel." Man solle mit der Partei "demokratisch umgehen", aber über Höcke sagt sie, es sei "in-ak-zep-ta-bel" - sie betont jede Silbe -, "wie der Junge sich benimmt". Lengsfeld hat in Cambridge studiert, nachdem die DDR sie auswies, um die Dissidentin los zu sein. In ihre Welt passen keine Koketterie mit Regelbrüchen wie bei der AfD. Im Gegenteil: Ihr ganzes politisches Weltbild scheint auf dem Kerngedanken zu fußen, es sollten sich gefälligst alle an die Regeln halten. Nur tun sie das aus ihrer Sicht nicht: Die Linken stellen sich über das Gesetz. So wie damals.

Fragt man sie, woher ihrer Meinung nach die angebliche Wiederkehr der DDR in neuem Gewand kommt, beklagt Lengsfeld deren verpasste Aufarbeitung. "Gysi und Konsorten sind hofiert worden von der westdeutschen Linken, die sofort gedacht hat: Jetzt kriegen wir endlich mal die richtige linke Partei." Es habe eine "Hatz" auf die Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit gegeben, aber nur, um von den eigentlich Verantwortlichen abzulenken. Der Frage, wessen "Schwert und Schild" die Stasi war, wer die Befehle gegeben hat, sei nie konsequent nachgegangen worden.

Montagsdemo gegen Rot-Rot in Brandenburg

Vera Lengsfeld spricht 2010 in Potsdam auf der Montagsdemo gegen Rot-Rot in Brandenburg.

(Foto: Bernd Settnik/dpa)

Wer aber sind die Hintermänner, und warum zieht man sie nicht zur Verantwortung? Bei dieser Frage geht es nicht mehr nur um die ewige Dissidentin Vera Lengsfeld. Sondern auch um Deutschlands "populärstes Stasi-Opfer", wie der Focus sie einst nannte. Es ist der Punkt, an dem sie zu reden aufhört.

Nein, sie wolle nicht über ihren Mann sprechen. Sie bereut, es getan zu haben, als 1992 der damalige Chefporträtist des Spiegel Jürgen Leinemann anklopfte: Die berühmte Bürgerrechtlerin war von ihrem eigenen Mann bespitzelt worden, dem Lyriker Knud Wollenberger, "IM Donald". Sie hatte eben beim Durchblättern der Stasiakten die Gewissheit erhalten, hatte Teile ihres für die Stasi protokollierten Ehelebens nachlesen müssen und war gerade auf dem Weg nach draußen aus der Stasi-Aufarbeitungsbehörde, als Leinemann sie auf der Straße abfing. Er notierte, wie "Verletzung und ratlose Verzweiflung ungehemmt" aus ihr herausbrachen. So steht es in seinem Artikel. Damals hieß Lengsfeld noch Wollenberger. Kurz danach nicht mehr. Wollenberger war Jude, die DDR für ihn die Antwort auf Auschwitz. Er hätte alles getan, um diesen Staat zu erhalten, soll er laut Lengfelds Autobiografie zu ihr gesagt haben.

Nach Leinemann kamen weitere Reporter. "Hunderte", sagt sie. Heute traue sie keinem Journalisten mehr. Auch dem nicht, der vor ihr sitzt. Ein trauriges Lachen, nur ganz kurz. Sie wirkt verwundbar. Nicht wie eine geschlagene Hündin, aber doch wie eine Person, der man nicht wehtun will, die auch selbst niemandem wehtun will. Große Augen, anklagend.

Wie viel Recht hat die Öffentlichkeit, etwas über eine Person zu erfahren, die nicht mehr das Stasiopfer vom Dienst sein will - und zugleich sehr laut in der Öffentlichkeit einen Staat bekämpft, der sie verfolgt hat und es in ihrer Wahrnehmung auch heute noch tut, den es aber gar nicht mehr gibt? Über Lengsfelds Blog steht der Satz "Freedom is not free". Die Überzeugung, dass die Diktatur Geschichte ist, hält sie offenbar für naiv. Möglicherweise ist dieses naive Vertrauen in den Staat und die Öffentlichkeit ein Segen, wenn man in einer Demokratie aufgewachsen ist. Lengsfeld und ihrer Generation wurde er vorenthalten.

Das Haus des Großvaters im thüringischen Sondershausen, in dem sie als Kind lebte, hat sie nach der Wende abreißen und wiederaufbauen lassen. Die Bausubstanz war innen morsch, so wie die des überwundenen Staates, so wie die ihrer Ehe. Alles gehörte zusammen in einem Staat, in dem es kein Privatleben geben durfte und das Private politisch war. Auch dann, wenn man das gar nicht wollte. Fragen durften keine gestellt werden. Die DDR war Siegerin der Geschichte, die Welt war heil. So das verordnete Weltbild.

Eine "Nazischlampe" ist sie laut eigener Aussage vor Kurzem von einem Antifa-Demonstranten genannt worden. Sie hat ihm eine geschmiert. "Lengsfeld, halt's Maul!" Ausgerechnet sie, die Bürgerrechtlerin mit dem Bundesverdienstkreuz. Die Siegerin der Geschichte.

LENGSFELD

Nachdenklich lehnt Lengsfeld an einem Augustnachmittag 1998 über einem Transparent zum Gedenken an den Jahrestag des Mauerbaus.

(Foto: Jens Meyer/AP)

Hat die Stasi am Ende doch gewonnen, haben die "Zersetzungsmaßnahmen" gefruchtet? Sie habe sich nie als Opfer gesehen, sagt sie. "Ich habe die Stasi bis aufs Blut gepeinigt." Ihrem damaligen Mann habe sie verziehen. Er lebt auch gar nicht mehr. Im Februar 2012 erschien in der Berliner Zeitung die Todesanzeige. Knud Wollenberger sei im Alter von 59 Jahren gestorben, das Begräbnis habe in Irland stattgefunden. "Und eine schwarze Sonne leckt die letzten Strahlen." Draußen, nach der Verabschiedung von Lengsfeld, wieder Vogelgezwitscher, Altbauten, Refugees Welcome. Junge Menschen mit Sonnenbrillen, für die Freiheit etwas Selbstverständliches ist, das man nicht verteidigen muss, das einfach da ist. Lengsfeld hat keine Zeit mehr. Sie muss noch einen Vortrag vorbereiten.

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