Zeitung des deutschen Bundestags:Sachlich, nüchtern, schnörkellos

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"Das Parlament" begleitet seit 1951 politische Prozesse. Jetzt will man auch junge Leser erreichen - dabei hat der Bundestag nicht einmal einen Facebook-Account.

Von Julian Erbersdobler

Liken, kommentieren, teilen: Was im Bundestag passiert, soll bald auch in sozielen Netzwerken wie Instagram stattfinden. (Foto: Lisa Ducret/dpa/SZ-Grafik)

Demokratie kann ermüdend sein. Jörg Biallas sitzt in einem heruntergekühlten Glaskasten mit 23 Gymnasiasten aus Bad Kreuznach und spricht über Fraktionen, Fachausschüsse und Verordnungen. Einer der beiden Lehrer versucht, die Schüler mit kleinen Gesten wach zu halten. Einmal hält er ganz demonstrativ seine Augenlider auf, unten der Daumen, oben der Zeigefinger. Bitte! Nicht! Schlafen!

Jörg Biallas, grüne Hose, weißes Hemd, spricht vorn weiter, er kennt das. Seit 2011 ist er Chefredakteur des Parlaments, der Zeitung des deutschen Bundestags. Und irgendwie auch deren Botschafter, immer wieder melden sich Klassen an, die ihn hier im Jakob-Kaiser-Haus im Regierungsviertel besuchen.

Fast alle Fragen kommen von drei Schülern. Eine ist richtig gut, rührt sie doch an ein heikles Thema: "Hat ihre Zeitung einen Instagram-Account?" Nein. Das sei auch gar nicht so einfach, weil der Bundestag sich gerade mit der Frage beschäftige, wie er sich auf den sozialen Medien präsentieren könne. In anderen Worten: Vielleicht gibt es irgendwann mal einen, aber das kann dauern.

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Plötzlich hieß es in Medienberichten, eine Einstellung stünde bevor

Mitte Mai sprach sich die Innere Kommission des Ältestenrates einstimmig dafür aus, soziale Medien bei der Öffentlichkeitsarbeit des Bundestags künftig stärker zu nutzen. Aber: Neueinstellungen soll es dafür nicht geben. Seither wird wild spekuliert. Müssen ein paar von Biallas' zehn Redakteurinnen und Redakteure bald auch Instagram und Twitter bespielen? Bedeutet das vielleicht sogar das Ende der gedruckten Parlamentszeitung? Plötzlich hieß es in Medienberichten, eine mögliche Einstellung der wöchentlich erscheinenden Zeitung könnte bevorstehen.

Vor einigen Wochen erst hat eine Studie gezeigt, dass junge Menschen zwischen 18 und 24 Nachrichten am häufigsten über die Fotoplattform Instagram mitbekommen - zwischen Burgerbildern und Strandpanoramen. Im Prinzip beschäftigen Biallas und sein Parlament damit jene großen Fragen, die sich jede Zeitungsredaktion sowie Unternehmen vieler anderer Branchen stellen müssen. In diesem Fall ganz konkret: Wie transformiert man einen Laden mit 709 Abgeordneten und sechs Fraktionen? Wie macht man diesen Riesen fit für die Öffentlichkeit im Netz?

Wer Jörg Biallas, 57, in seinem Büro besuchen möchte, muss erst durch den Sicherheitscheck. Am Eingang werden Taschen, Rucksäcke und Menschen durchleuchtet. Es gibt in Deutschland wahrscheinlich nur wenige Redaktionen, die so gut geschützt sind. Jakob-Kaiser-Haus, erster Stock, beste Aussicht. Dort hat der Chefredakteur ein Eckbüro mit Blick auf den Reichstag. Im Hintergrund läuft der Fernseher ohne Ton, Donald Trump, Wetter, Werbung.

Chefredakteur mit Hunderten Herausgebern: Jörg Biallas. (Foto: Jörg Biallas)

Wenn es brenzlig wird, spricht der Chefredakteur leiser

Wie geht es also weiter mit der Zeitung? Und mit den sozialen Medien im Bundestag? "Ich finde man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen", sagt Biallas. Er will weiter das gedruckte Wochenprodukt anbieten, aber auch Social Media voranbringen. Wie das konkret aussehen soll, müsse politisch entschieden werden. Der Chefredakteur ist in einer heiklen Lage. Er kann nicht auf jede Frage antworten. Wenn es brenzlig wird, spricht er leiser, das heißt: bitte nicht wörtlich zitieren.

Die Lage ist auch deshalb so brisant, weil das Blatt ein besonderes ist. Denn das Parlament hat 709 Herausgeber. So viele Abgeordnete sitzen aktuell im deutschen Bundestag. Konservative, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale, Linke, Populisten. Und wenn in der Zeitung über eine Debatte im Bundestag berichtet wird, dann müssen alle sechs Fraktionsparteien zitiert werden. Auch dann, wenn ein Abgeordneter mehr oder weniger dasselbe sagt, wie sein Vorredner. "Das macht unsere Texte nicht immer sexy", gibt Biallas zu.

Vor seiner Zeit als Chefredakteur sei das aber noch extremer gewesen, erzählt er. Früher hätten Fraktionen wohl Praktikanten beauftragt, nach Veröffentlichungen Zeilen zu zählen. Um zu prüfen, ob die eigene Partei auch genug Platz bekommen hat. Es gibt noch andere Besonderheiten beim Parlament: Jörg Biallas und seine zehn Redakteure schreiben keine Kommentare. Meinungsstücke kommen nur von Gastautoren. "Wir sind Protokollanten des politischen Geschehens." Die Texte: sachlich, nüchtern, schnörkellos.

709 Abgeordnete gleich 709 Herausgeber. Und jede Fraktion soll gleich viel zu Wort kommen

Biallas ist aber kein Unparteiischer ohne Haltung, natürlich nicht. Das merkt man zum Beispiel, wenn er darüber spricht, dass er sich vor ein paar Jahren mit dem damaligen türkischen Parlamentspräsidenten angelegt hat. Damals ging es um eine Türkei-Ausgabe seiner Zeitung, Erdoğan-Kritik inklusive. Der Beschwerdebrief kam direkt aus Ankara. Jörg Biallas schrieb persönlich zurück, "dann war Ruhe", sagt er und grinst, als wäre ihm gerade ein genialer Streich gelungen.

Das Parlament gibt es seit 1951. Die Zeitung hat eine Auflage von 57 000, davon werden 14 000 Exemplare verkauft, der Rest liegt in Schulen, Bibliotheken, Universitäten und Kasernen aus. Das Erstaunliche: Im Gegensatz zum bundesweiten Print-Rückgang wächst die Auflage sogar leicht. Leser seien vor allem ältere Menschen, sagt Biallas, die sich sehr für Politik interessieren und weniger mit dem Internet anfangen können. "Das sind keine 18-Jährigen, die uns abonnieren."

Die Büros sind in der Bundestagsverwaltung, manche Redakteure sind verbeamtet - auch Biallas. "Wir sind letztlich eine öffentlich-rechtliche Zeitung", sagt er. Links von seinem Schreibtisch steht ein Bild von zwei Männern im Regal. Der eine ist Hans-Dietrich Genscher, der andere Jörg Biallas, der damals für die Mitteldeutsche Zeitung im Einsatz war. Dort hat er vor dem Bundestag gearbeitet. Und davor? "Ich war Profivolleyballer und habe mich mit Anfang 20 am Knie verletzt." Volontariat bei den Westfälischen Nachrichten, dann Redakteursdienst, später zog es ihn zur Mitteldeutschen, wo er auch Chefredakteur war.

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Immer wieder spricht er von "sogenannten" sozialen Medien, als wäre das ein Fremdwort.

Das Parlament wolle anderen großen Blättern keine Konkurrenz machen, sagt Biallas nun in seinem Büro, das sei bei manchen Themen ohnehin nicht möglich. Wie viele Leser hat wohl ein Text über die 23. Runde im Landwirtschaftsausschuss über die Ferkelkastrationsverordnung schon?

Man muss sich diese Frage stellen, um zu verstehen, dass es nicht leicht ist, das Parlament auf Instagram zu präsentieren. Demokratie lässt sich schlecht bebildern, Ausschüsse haben wenig Hochglanzpotenzial. Klar ist aber auch, Biallas und sein Team machen längst nicht mehr nur Zeitung. Sie haben ein E-Paper, liefern Texte für die Webseite des Bundestags und schreiben circa 1000 Newsletter im Jahr.

Nicht nur Biallas Arbeit hat sich also in den vergangenen Jahren stark verändert. Wer aber nach seinen Social-Media-Profilen sucht, findet: nichts. Darauf angesprochen sagt er, dass er sich wegen seines besonderen Jobs lieber mit Meinungen zurückhalte. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Biallas skeptisch ist. Immer wieder spricht er von "sogenannten" sozialen Medien, als wäre das ein Fremdwort.

Warum hat der Bundestag eigentlich immer noch keinen Facebook-Account? Für den Chefredakteur gibt es vor allem zwei Baustellen. Soziale Medien seien auf Interaktion ausgelegt. Aber was soll der Bundestag antworten, wenn er nach einer Einschätzung zu einem Thema gefragt wird? "Es gibt mindestens so viele politische Meinungen, wie es Fraktionen gibt."

Instagram? Demokratie lässt sich schlecht bebildern, Ausschüsse haben wenig Hochglanzpotenzial

Das andere Problem ist der Datenschutz. Das Bundesland Sachsen-Anhalt hat seine Facebookseite erst vor Kurzem wieder vom Netz genommen. Als Begründung wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs genannt. Demnach ist der Betreiber einer professionellen Facebook-Seite gemeinsam mit Facebook für die Verarbeitung der Daten der Besucher der Seite verantwortlich und kann zur Verantwortung gezogen werden. "Ich finde das ein starkes Argument", sagt Biallas. Twittern sei unproblematischer. Er lässt es trotzdem lieber.

Jeden Dienstag wird beim Parlament um halb zwei konferiert. Dafür geht es in den Glaskasten im Erdgeschoss, wo sonst auch die Besucherklassen sitzen. Der Reihe nach erzählen die erfahrenen Redakteure und wenigen jungen Redakteurinnen, was für die Seiten geplant ist. Untersuchungsausschuss, Treuhand, Grundsteuer, Organspende-Reform. Irgendwann womöglich auch so, dass auch ein junges Publikum bitte nicht einschläft.

© SZ vom 10.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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