Interview mit Horst Seehofer:"Wir brauchen wieder einen aktiveren Staat"

Bundesinnenminster Seehofer besucht Lübtheen

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)

(Foto: dpa)

Um strukturschwache Regionen in Deutschland mit schnellem Internet zu versorgen und an Bahntrassen anzubinden, fordert der Innenminister Investitionen in Milliardenhöhe.

Interview von Markus Balser und Stefan Braun, Berlin

SZ: Hier öffentlicher Nahverkehr im Minutentakt und superschnelles Internet in jeder Wohnung, dort Funklöcher und zweimal am Tag ein Bus. Wie konnte Deutschland zu einem Land der zwei Welten werden?

Horst Seehofer: Die Lebensverhältnisse können schlicht nicht in jedem Winkel gleich sein. Aber richtig ist: Die Unterschiede sind zwischen vielen Regionen heute einfach zu groß. Deshalb müssen wir jetzt handeln. Nicht für identische Lebensverhältnisse, aber für gleiche Lebenschancen auch dort, wo sie heute nicht gewährleistet sind.

Wie konnte es dazu kommen?

Es gab sicher Versäumnisse. Der Staat hat in den vergangenen 30 Jahren zu wenig investiert. Wir haben versucht, Schwächen auszugleichen, etwa mit dem Soli. Aber man muss selbstkritisch sagen: Mit dem Stopfen von Lücken gelingt kein Strukturwandel. Und erst recht kein Aufbruch.

Welche Gefahren drohen, wenn diese Kluft nicht überwunden wird?

Wir spüren: Viele Bürger fühlen sich abgehängt. Das fördert radikale Kräfte, die den Menschen das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Gleichzeitig führen die Verhältnisse dort, wo sich alles bündelt, zu einer Überhitzung der Metropolen mit steigenden Mieten und wachsenden Verkehrsproblemen - und dort, wo zu wenig ist, zu einer Entleerung und Überalterung der ländlichen Räume. All das hat enorme Konsequenzen. Letztlich droht es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören.

Fürchten Sie Proteste wie die der Gelbwesten in Frankreich?

Wenn man Notwendigkeiten verschläft, kann man die auch hier in Deutschland nicht ausschließen. Die Lebensverhältnisse anzugleichen, ist partei-, gesellschafts- aber auch staatspolitisch ungeheuer wichtig. Es wird das Land stabilisieren. Auch deshalb ist es höchste Zeit, einen politischen Paradigmenwechsel einzuleiten.

Wie sieht der aus?

Wir brauchen wieder einen aktiveren Staat, der die Mängel der sozialen Marktwirtschaft ausgleicht und uns vom Irrglauben befreit, die Marktwirtschaft löse alles. Wir brauchen eine Wirtschaftsstrukturpolitik, die Schwächen bewusst und entschlossen ausgleicht.

Welche Mängel sehen Sie?

Beispiel schnelles Internet: Für 15 Prozent des Landes ist es für Telekommunikationsunternehmen nicht rentabel, dies den Bürgern anzubieten. Also passiert nichts. Aber wir können einen so großen Teil des Landes ja nicht abhängen. Ärzte, Betriebe, aber auch die Bürger sind darauf angewiesen. Wir brauchen deshalb eine staatliche Infrastrukturgesellschaft, die genau dort Masten errichtet und Netze verlegt, wo es Unternehmen nicht tun. Hier muss sich der Staat künftig mit Steuermitteln engagieren. Ähnliches gilt für Bahntrassen.

Neue Trassen und Netze: Wie lange wird es dauern, bis sich die Welten annähern?

Wir werden Geduld brauchen. Das ist eine Aufgabe für eine Dekade und eine Großaufgabe mit Finanzbedarf in Milliardenhöhe. Wir haben es mit einer Fülle und Breite von Themen zu tun, die alles Bisherige übersteigt. Es ist das größte Projekt seit der deutschen Einheit.

Allein für den Nah-, Fern- und selbst für den Radverkehr fehlt enorm viel Geld. Jahr für Jahr müssten viele zusätzliche Milliarden her, um allen Wünschen gerecht zu werden. Woher sollen die so schnell kommen?

Ich kündige Ihnen heute keine Steuererhöhung an. Ein gut regierter Staat muss mit dem vorhandenen Geld Prioritäten setzen. Investitionen in die Zukunft müssen in der Prioritätenliste ganz nach oben. Schnelles Netz, Schienen, Straßen. Solche Investitionen sind auch wirtschaftlich sinnvoll, weil sie Wachstum entfalten - und neue Steuereinnahmen generieren.

Noch sagen Prognosen ein weiteres Abwandern vom Land voraus. 2035 sollen in manchen Regionen auf jede Geburt vier Beerdigungen kommen. Sind Sie sicher, dass Sie das aufhalten können?

Ich habe meine Zweifel an solchen Prognosen. Die Realität sieht meist anders aus. Uns wurde lange vorhergesagt, dass die deutsche Bevölkerung auf 74 Millionen sinkt. Das Gegenteil ist passiert. Wir sind auf 83 Millionen gewachsen. Glauben Sie mir: Wir werden die Abwanderungstendenzen vom Land stoppen.

Die Stellenanzeigen versprechen Jobs vor allem in den Städten.

Wir haben mit der Wirtschaft die Aufgabe, die Arbeitsplätze wieder zu den Menschen zu bringen und nicht immer nur in den großen Metropolregionen zu konzentrieren. Am Ende wollen wir den Menschen die Möglichkeit geben, dort zu leben, wo sie das auch wollen. Die Daseinsvorsorge - Schulen, Ärzte, Jobs, Nahverkehr - muss vor Ort in zumutbarer Entfernung sein. Wenn der Arzt verschwindet, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Bevölkerung geht.

Verstehen Sie, warum so viele Menschen in Deutschland zutiefst frustriert und verunsichert sind?

Ich glaube, es geht um die Angst, etwas zu verlieren. Brexit, Handelskonflikte, Digitalisierung, wir erleben Krisen und einen tiefen Wandel, der vieles verändern kann. Die Menschen sorgen sich um ihre Zukunft. Und sie erleben auf dem Land, dass manchmal ihr ganzes Lebenswerk, ein Haus, plötzlich nicht mehr viel wert ist. Wir wollen dem begegnen. Aber das geht nur mit dem Mut der Erneuerung und der Veränderung.

Retten Sie so auch die Volksparteien?

Jedenfalls tun wir alles dafür, um sie wieder zu stärken. Die Menschen müssen in der Breite das Gefühl haben, dass wir uns um sie kümmern. Ihre Sorgen ernst nehmen. Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand, soziale Sicherheit - das sind die vier überragenden politischen Ziele. Das ist meine Triebfeder. Etwas Bleibendes, Außergewöhnliches zu schaffen.

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