Berliner Kurator zur Restitutionsdebatte:"Sie ertrinken in den Objekten"

Kurator Bonaventure Ndikung

"Die Intransparenz ist unglaublich", sagt Bonaventure Ndikung. Er gründete 2009 die Kunstinitiative Savvy Contemporay.

(Foto: Alexander Steffens/PR)

Ethnologische Museen behaupten, bei ihnen sei das kulturelle Erbe sicher aufgehoben. Bonaventure Ndikung kennt den Zustand dort - und sieht das anders.

Interview von Jörg Häntzschel

Seit dem Beginn der Restitutionsdebatte hört man oft, dass die Museen in Afrika nicht in der Lage seien, das eigene kulturelle Erbe zu bewahren. Besser sei es in den ethnologischen Museen in Europa aufgehoben. Eine Recherche der SZ in deutschen Museen ergab jedoch, dass dort oft haarsträubende Zustände herrschen. Wir sprachen darüber mit dem Berliner Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung.

SZ: Sie hatten viel mit ethnologischen Museen zu tun. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Bonaventure Ndikung: Die Schlampigkeit und Nachlässigkeit dort sind erschreckend, aber sie haben mich nicht überrascht. Alles begann mit der Art und Weise, wie die Dinge in die Sammlungen kamen, dem Raub in Afrika, dem Gift, mit dem man die Objekte behandelt hat. Was danach kam, setzte das nur fort. Direktoren von ethnologischen Museen wissen nicht nur oft nicht, wo die Dinge herkommen und was ihre Funktion und Bedeutung ist, sie wissen einfach nicht, was sie besitzen. Das ist auch eine Frage der Größe. Früher prahlten die Direktoren mit der Zahl ihrer Objekte. Der eine sagte: Ich habe 120 000! Der andere: Ich habe 500 000! Jetzt schlägt die Größe zurück. Sie ertrinken in den Objekten.

Häufig hört man, wie sehr sich die Museen abschotten. Haben Sie das auch erlebt?

Als wir versucht haben, Benin-Bronzen für die Documenta 14 zu leihen, haben alle abgelehnt. Nur das Museum Fünf Kontinente in München hat uns geholfen, sie haben uns drei Bronzen geliehen. Geht es darum, etwas im Depot sehen zu dürfen oder Zugang zum Archiv zu bekommen, muss man extrem hartnäckig sein. Aber nach ein paar Anfragen gibt man eben auf. Die Intransparenz ist unglaublich. Neulich habe ich mich mit Inés de Castro unterhalten, der Direktorin des Stuttgarter Linden-Museums. Sie sagte: "Wir bekommen kaum Anfragen nach Rückgaben", dabei hatte sie kurz davor selbst erklärt, sie wisse nicht genau, was sich in ihrem Museum befinde. Wenn nicht einmal die Leute aus den Museen es wissen, wie soll dann jemand um die Rückgabe von Objekten bitten?

Die Museen sagen, vieles liege an ihrer schlechten Finanzierung.

Das überzeugt mich nicht. Es gibt erheblich ärmere Institutionen, die mehr leisten. Die Restitutionsdebatte ist ein Segen für diese Museen: Plötzlich fliegt ihnen Geld zu. Die Initiativen, die all die Jahre protestiert und die Museen auf die inhärente Gewalt in ihrer Geschichte und ihren Ausstellungen hingewiesen haben, bekommen nichts. Bei Savvy Contemporary beschäftigen wir uns seit zehn Jahren mit dem Kolonialismus. Wir haben Konferenzen veranstaltet, wir haben Hermann Parzinger (den Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und andere eingeladen; wir haben von Restitutionen gesprochen, lange bevor Macron ein Wort gesagt hat, lange bevor Bénédicte Savoy und Felwine Sarr darüber geschrieben haben. Doch das Geld bekommen allein die Museen.

Warum weisen die Museumsleute nicht selbst auf die Missstände hin?

Das ist sehr menschlich. Zum einen fürchten sie um ihre Jobs, ganz einfach. Man kann diese Angst, diese Panik hören, wenn sie sagen: "Wenn wir alles weggeben, was sollen wir dann tun? Unsere Museen werden leer sein!" - als hätte irgendjemand das gefordert. Das andere ist: Es gibt bei ihnen eine ererbte Überzeugung von der eigenen Überlegenheit. Viele waren mal liberal und offen. Aber wenn sie eine Weile dort arbeiten, werden sie sehr konservativ. Sie glauben, sie allein hätten das Recht, dieses Erbe zu bewahren, die Afrikaner seien dazu nicht in der Lage. In Wahrheit sind sie es ja, die dazu nicht in der Lage sind. Sie konnten es nie! Manche dieser Objekte waren 900 Jahre alt, bevor die Europäer sie mitnahmen. Die Leute hatten sich offensichtlich gut um sie gekümmert.

Woher stammt dieses Überlegenheitsgefühl?

Für mich ist das eine andere Form des Kolonialen. Das Koloniale wirkt über die Kontrolle von Wissen, die Kontrolle von Rechten und die Erfindung eines Anderen. Dies ist ein perfektes Beispiel dafür: Ich weiß, wie die Dinge geordnet werden müssen, wie sie kategorisiert und klassifiziert werden müssen, und du weißt es nicht.

Ethnologische Museen besitzen enorme Mengen an Alltagskram. Welches deutsche Museum hat schon sizilianische Hochzeitskleider gesammelt oder norwegische Melkschemel? Manche ethnologische Museen haben Hunderte von Löffeln aus Afrika. Warum?

Dahinter steht die Fetischisierung des Anderen. Um den Anderen zu konstruieren, müssen sie alles von ihm sammeln, alles, was ihn ausmacht. Andererseits: Indem sie alles von ihm sammeln, berauben sie ihn seines Wissens. So viel im Design, in der Architektur, der Kunst ist verloren gegangen.

Genau dieser Vollständigkeits-Wahn zwingt die Museen jetzt in die Knie.

Es ist das "Archivfieber", der seit dem Mittelalter existierende Traum, alles zu sammeln. In den ethnologischen Museen sieht man, wie er scheitert. Ich habe neulich einen Vortrag über die "Apoptose des Archivs" gehalten, ihr eingebautes Sterben. Die Museen müssen Dinge abgeben, um Platz für neue zu schaffen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass Vollständigkeit und Sammeln für die Ewigkeit unmöglich sind. Mit meinem Großvater habe ich über diese Idee gesprochen, dass die Objekte in den Museen sterben, wie in dem Film "Les statues meurent aussi" von Alain Resnais und Chris Marker. Und mein Großvater sagte: Nein, sie sterben nicht in den Museen. Es ist umgekehrt: Man nimmt ihnen ihren Tod. Sie sind voll mit Arsen und Blei, doch man erlaubt ihnen nicht zu sterben.

Wie können sich die ethnologischen Museen neu erfinden?

Sie müssten sich die Frage stellen: Was tun wir eigentlich? Was ist unser Zweck? Letztlich geht es um die Differenz zwischen humanitas, dem weißen Mann, und anthropos, dem anderen. Die Hauptaufgabe der Museen war es, den anthropos zu zeigen. In einer Zeit, da die einst unüberwindbare Trennung zwischen humanitas und anthropos gefallen ist, wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen. Es gibt keinen Grund mehr, den anthropos zu zeigen. Die Kolonien existieren nicht mehr. Wer ist jetzt der andere?

Zur SZ-Startseite

Ethnologische Museen Deutschlands
:Verseucht, zerfressen, überflutet

Die Bestände deutscher Völkerkunde-Museen sind in einem katastrophalen Zustand. Warum wehren sich die Häuser gegen eine Rückgabe der Raubkunst an die Herkunftsländer, wenn ihnen an den Dingen so wenig liegt?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: