"König der Löwen"-Neuauflage:Nirgendwo in Afrika

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Tiere, Felsen, Blätter - alles kommt aus dem Computer. Szene aus dem neuen, fotorealistischen „König der Löwen“-Film. (Foto: null; Verleih)
  • Disneys neuer "König der Löwen" kommt trotz der täuschend echten Bilder komplett aus dem Rechner.
  • Die Handlung selbst orientiert sich weitestgehend am Original, viele Einstellungen und berühmte Szenen wurden übernommen.
  • Der Film weckt Sehnsüchte nach einer völlig neuen Art von Tierfilm, in der neben den realistischen Bildern auch die Dramaturgie den wahren Gesetzen der Savanne folgt.

Von Tobias Kniebe

Das Spiel des Sonnenlichts im Fell des Löwenjungen, das Silbergras der Savanne, die räudigen Stellen auf der Hyänenhaut, der Höcker des Nashornvogels, die verwitterten Rippen des Elefantenskeletts - nichts von all diesen Dingen ist real. So wenig wie das Ballett der Springböcke im Morgennebel, der Staub unter den Elefantenfüßen, die Borsten des Warzenschweins, die Lichtsäume der Abendsonne in den Schirmakazien oder die Barthaare des alten Mandrills.

Man muss sich selbst immer wieder daran erinnern: All diese sehr konkreten, plastischen, sinnlichen, beinah greifbar wirkenden Dinge, die man in dieser neuen Version von Disneys "König der Löwen" bestaunen kann, haben tatsächlich nirgendwo auf der Welt existiert, weder in Afrika noch anderswo. Alles, was man auf dieser Leinwand sieht, vom Affen bis zum Zebra, von der Zirruswolke am Himmel bis zum Gewusel im Termitenhügel, ist vollständig im Inneren von Computern errechnet und animiert und schließlich zu Filmbildern zusammengefügt worden.

So liest man es in den Produktionsberichten, so hört man es vom Regisseur Jon Favreau, seinen Bildgestaltern und Animationskünstlern. Man weiß es also und ist doch irgendwie unfähig, wirklich daran zu glauben. Denn diese Welt sieht so echt, so fotorealistisch, so dermaßen wie abgefilmte Natur aus, dass man ihre Virtualität nach kurzer Zeit vergisst.

Es gab 2016 mit dem "Dschungelbuch", ebenfalls von Jon Favreau inszeniert, schon einen Vorläufer für diese Technik. Damals aber spielte noch ein echter menschlicher Mogli zwischen den künstlichen Tieren, da mussten noch wirkliche Filmaufnahmen in die virtuellen integriert werden, und manchmal sah man die Kittstellen zwischen diesen Welten. Jetzt ist die Technik noch mal einen Schritt weiter, jetzt ist alles virtuell, und diesmal sind die Tiere wirklich unter sich.

Was natürlich all die Dokumentarfilme aus Afrika ins Gedächtnis ruft, für die geduldige Kameramänner monatelang in den Büschen versteckt lagen, um echtes Tierleben einzufangen. Diesmal läuft und fliegt die Kamera völlig unbeachtet zwischen den Tieren mit, als wäre sie ein Teil der Herde, oder sie rückt so nah an die Löwen heran, dass ein lässiger Prankenhieb sie zerschmettern könnte. Es ist, als hätten Bernhard Grzimek, David Attenborough oder Alastair Fothergill, die legendären Tierfilmer, endlich den Tarnumhang ihrer Träume ersonnen, mit dem sie sich unsichtbar und unhörbar in die Herden und Rudel hineinbegeben können, die sie all die Jahre mit ihren Teleobjektiven so intensiv aus der Ferne verfolgt haben.

Die Eröffnungsmontage zitiert exakt das geniale Zeichentrick-Original

Auf allen anderen Ebenen des Erzählens aber herrscht natürlich Künstlichkeit. Denn was könnte künstlicher sein als diese Naturdoku-Tiere, die dann plötzlich sprechen und sogar singen! Donald Glover, Chiwetel Ejiofor und Beyoncé, die als Herrscherin ihres ergebenen "Beyhive"-Fankollektivs ihr eigenes Königreich gleich mitbringt, gehören zu den neuen Stimmen. Damit es nicht zu seltsam aussieht, werden die lippensynchronen Schnauzen und Schnäbel aber dezent inszeniert, man darf nicht immer sehen, wie sich die Worte in den Tiermäulern formen.

Und so entspinnt sich, ohne große Veränderungen zum originalen "König der Löwen" von Roger Allers und Rob Minkoff, der Mitte der Neunzigerjahre noch einmal ein Höhepunkt handgezeichneter Disneykunst war, wieder die Geschichte vom Brudermord des bösen Onkels Scar (Ejiofor), der den herrschenden Löwenkönig Mufasa (James Earl Jones) in eine tödliche Falle lockt. Dann schiebt er dessen kleinem Sohn Simba (Glover) die Schuld zu, dieser flieht ins Exil und reift dort zu königlicher Größe heran. Aber erst das Wiedersehen mit seiner Jugendfreundin Nala (Beyoncé) erinnert ihn an seine wahre Kraft und Bestimmung ...

Wie vollständig die Tiere hier menschlichen Ideen unterworfen sind, zeigt schon die Eröffnungsmontage, die das Zeichentrick-Original exakt repliziert. Ein Zulu-Sänger ruft der Sonne entgegen, die sich als rot wabernder Feuerball zügig über den Horizont erhebt, und die Tiere der Savanne, wie magisch geweckt und von einem kollektiven Bewusstsein getrieben, streben hüpfend, fliegend, krabbelnd und trampelnd einem gemeinsamen Ziel entgegen: dem hoch aufragenden Löwenfelsen.

Der Zulu-Sänger ist derselbe wie damals, die Musik auch, immer noch ein Mix aus Hans Zimmer und Elton John, selbst einzelne Einstellungen - die Erdmännchen recken die Köpfe, die Marabus erheben sich in die Luft, Blattschneiderameisen krabbeln einen Ast entlang, unter dem eine Zebraherde galoppiert - sind eins zu eins aus der Fantasie der damaligen Zeichner übernommen.

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Die Echtheit der Tiere macht die Story für junge Zuschauer auch furchterregender

Und warum nicht! Manchmal kommen Musik, visuelle Fantasie, Bildgestaltung und Schnittkunst im Kino auf eine Weise zusammen, die irgendwie endgültig ist, und die originale "Circle of Life"-Montage gehört zu diesen Sequenzen für die Ewigkeit. Favreau und sein Team verbeugen sich hier vor der Ahnengalerie ihrer Vorgänger bis hin zu Walt Disney selbst, genau wie die Tiere, die am Ende dieser vier Minuten die Hörner und Rüssel und Schnäbel senken und die Hufe beugen, um dem neugeborenen, natürlich sehr süßen Baby-Löwenkönig zu huldigen, der ihnen auf der Spitze des Felsens präsentiert wird.

Weil die Tiere jetzt nicht mehr gezeichnet sind, fällt umso stärker auf, wie einträchtig Jäger und Beute hier nebeneinander stehen. Das komplexe Netzwerk des Fressens und Gefressenwerdens, das die Savanne wie jedes Ökosystem überzieht, wird hier radikal zentralisiert und auf den Löwenfelsen ausgerichtet, wo die urmenschliche Idee vom "König der Tiere" regiert, inklusive Gottesgnadentum, Ahnenverehrung und Erbfolgeregelung.

Man darf deshalb nie so richtig sehen, wie ein Tier gerissen wird, um von anderen Tieren gefressen zu werden, und wenn es zu wirklichen Freundschaften kommt - der heimatlose junge Löwenkönig findet Trost bei einem Warzenschwein und einem Erdmännchen - muss auch die Ernährung umgestellt werden, auf Larven und Käfer. Wie Simba sich in dieser Zeit, in der er vom Tierbaby zum dominanten Männchen reift, wohl seine eindrucksvolle Muskelmasse angefressen hat?

Die deutlichste Einschränkung, die der neue Fotorealismus mit sich bringt, betrifft die überbordende Fantasie der Animatoren: Hyänen wie früher einfach mal im faschistischen Stechschritt marschieren zu lassen, geht jetzt nicht mehr, das sähe wohl lächerlich aus. Die Echtheit der Tiere macht die Story für junge Zuschauer auch furchterregender, das sollten Eltern wissen. Vor allem aber weckt die neue Technik die Sehnsucht nach einer nie gesehenen Art des Tierfilms.

Wenn man nunmehr vollständig in das Leben eines virtuellen Löwenrudels eintauchen kann, das exakt so aussieht wie ein echtes - warum folgt man dann nicht auch in der Dramaturgie den wahren Gesetzen der Savanne? Dominanz und Unterwerfung, Lust und Liebe, Brudermord und Throneroberungen gibt es auch dort. Und die Tierfilmer in Afrika, die dann arbeitslos wären, könnten in Hollywood weiterbeschäftigt werden - als Drehbuchberater.

The Lion King , USA 2019 - Regie: Jon Favreau. Buch: Jeff Nathanson. Kamera: Caleb Deschanel. Mit den Stimmen von Donald Glover, Beyoncé Knowles-Carter. Verleih: Disney, 118 Minuten.

© SZ vom 17.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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