Wirtschaftswachstum:Australisches Wunder

Die Wirtschaft des Staates wächst seit 28 Jahren. Das hat es noch in keinem anderen westlichen Industrieland gegeben. Doch das Wirtschaftswunder könnte bald vorbei sein.

Von Jan Bielicki

Die Sowjetunion zerfällt, am Persischen Golf tobt ein Krieg, die Scorpions aus Hannover landen mit "Wind of Change" einen Welthit, in Bonn wird eine 37-jährige Abgeordnete aus Ostdeutschland namens Angela Merkel erstmals Ministerin. Es ist das Jahr 1991, und am anderen Ende der Welt taumelt die Wirtschaft in eine schwere Krise. Tausende Australier verlieren ihre Jobs, mehrere Banken kollabieren. Es ist eine "Rezession, die Australien gebraucht hat", sagt der australische Finanzminister Paul Keating damals - und steigt trotz seiner sehr umstrittenen Äußerung kurz darauf zum Premierminister auf.

Womöglich hatte Keating recht - denn seit diesem Krisenjahr 1991 gab es für die Wirtschaft Australiens immer nur eine Richtung: Es ging aufwärts, ununterbrochen bis heute. 28 Jahre lang hat das Land, das einen ganzen Kontinent umfasst, keine Rezession mehr erlebt. So lange hat ein westliches Industrieland noch nie im permanenten Boom gelebt - jedenfalls nicht, wenn man die allgemein akzeptierte Definition zugrunde legt, wonach das Sinken des Bruttoinlandsprodukts in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen eine Rezession bedeutet. Beim vorangegangenen Rekordhalter Niederlande beendete die große Finanzkrise von 2008 einen 24 Jahre anhaltenden Aufschwung. Australiens Wirtschaft aber segelte - auch dank eines Milliarden-Stimulus der Regierung - unbeschadet durch diese weltweite Krise und wächst bis heute weiter, fast so, als wären ihr keine Grenze gesetzt.

Woran liegt das? Was machen die Australier womöglich besser als die anderen? Und was macht ein solcher Boom mit einem Kontinent und seinen Menschen, von denen eine ganze Generation gar nichts anderes kennt als ein Land, das - jedenfalls im statistischen Schnitt - Jahr für Jahr immer nur reicher wird?

In den 1980er Jahren wurde die Wirtschaft liberalisiert - das hat den Aufschwung befördert

Auf der Suche nach den Gründen für diesen Daueraufschwung lohnt es sich, etwa auf die Skyline der westaustralischen Stadt Perth zu blicken. Manche der Hochhäuser des Zentrums, die sich im seenartig geweiteten Swan River spiegeln, sind schon in 1980er Jahren in die Höhe geschossen. Es war eine wilde Zeit, in der die Labor-Regierung die bis dahin streng regulierte Wirtschaft liberalisierte, Zölle drastisch senkte und die Banken von der Leine ließ. Der von Spekulation getragene Aufschwung endete im Rumms von 1991 - und nebenbei das halbe Kabinett Westaustraliens, allzu sehr mit Spekulanten verbunden, hinter Gittern. Tatsächlich hat das Land aus den Fehlern gelernt, die Inflation eingegrenzt, den Banken wieder Regeln gegeben. Seine vier Großbanken zählen heute zu den stabilsten der Welt.

Skyline von Perth Australien Reisen Travel die Skyline von Perth vom Swanriver aus gesehen Lang

Die Skyline von Perth. Manche Hochhäuser des Zentrums, die sich im seenartig geweiteten Swan River spiegeln, sind schon in den 1980er Jahren in die Höhe geschossen.

(Foto: Ulrich Roth, imago)

Seither sind viele weitere Hochhäuser in den meist blauen Himmel über Australiens Großstädten gewachsen. Auf Perths Türmen zeigen Aufschriften, wer mit dafür gesorgt hat, dass es so stetig aufwärts ging: BHP Billiton, Rio Tinto, Fortescue, Woodside - an obersten Stockwerken prangen die Namen der großen Bergbaukonzerne, die den Aufschwung lange geprägt haben. Etwa 1300 Kilometer nördlich der Stadt holen sie in riesigen Tagebauen Erze aus der Halbwüste der Region Pilbara, lassen sie von 500-Tonner-Lastern auf kilometerlange Züge Richtung Küste schaffen und von dort nach China, Indien und Korea verschiffen. Im Osten des Kontinents geschieht dasselbe mit Kohle, in Millionen Tonnen aus dem Boden der Bundesstaaten New South Wales und Queensland gebaggert, ins energiehungrige China exportiert und dort in Kraftwerken verfeuert. Das dabei freigesetzte Kohlendioxid beschleunigt zwar die Erwärmung des Weltklimas, unter der das ohnehin hitzegeplagte Australien besonders zu leiden hat. Trotzdem soll die Erschließung enormer Kohlevorkommen im Hinterland Queenslands dieses Geschäft noch ausbauen. Es ist einfach zu wichtig für die Wirtschaft des Landes: Gut die Hälfte des australischen Exportvolumens besteht aus Bodenschätzen.

Etwa ein Drittel aller australischen Exporte gehen nach China. Solange Chinas Wirtschaft im Eiltempo wuchs, ging es darum auch Australien ökonomisch bestens. Chinas Boom zog das Land, das sein Rohstofflieferant war und noch ist, einfach mit. In Städten wie Perth wurden die sogenannten Fly-in-fly-out-Jobs in den Bergwerken zum Symbol für das gute Geld, das zu verdienen war: Für acht Tage hinausfliegen in die Minen, in 13-Stunden-Tagen bei 45 Grad Hitze im kaum existierenden Schatten ranklotzen, dann für sechs freie Tage zurück in die Stadt. Von den hohen Löhnen konnten sich Arbeiter viel leisten.

Das freilich war vorbei, als nach der großen Finanzkrise von 2008 Chinas Nachfrage nach Bodenschätzen nachließ und die Rohstoffpreise purzelten. Sogar mitten in Perths Innenstadt stehen heute Bauzäune, hinter denen sich Baugruben für die Fundamente von Wolkenkratzern verbergen, die längst geplant und genehmigt, aber nie gebaut wurden. Im rohstoffreichen Westaustralien hat sich das Wachstum schon seit fast zehn Jahren deutlich verflacht.

Auch Australiens Industrie ist in den vergangenen 28 Jahren nicht mitgewachsen, im Gegenteil: Nurmehr etwa sieben Prozent aller Beschäftigten verdienen ihr Geld im verarbeitenden Gewerbe. Autos etwa produziert das Land gar nicht mehr. Als letzter von vier Autobauern, die noch zur Jahrtausendwende in Australien produzierten, schloss die dem US-Konzern General Motors gehörende Traditionsmarke Holden 2017 ihre Werkstore. Der Holden Commodore etwa wird heute aus Rüsselsheim importiert, er ist ein umgelabelter Opel Insignia, dessen Steuer - linksverkehrbedingt - auf der rechten Seite eingebaut ist.

Es spricht jedoch für Australiens Wirtschaft, dass das Ende des Bergbaubooms und die weitgehende Deindustrialisierung bislang nur regional durchschlugen - und in den großen Metropolen Sydney und Melbourne praktisch gar nicht zu spüren waren. Etwa 88 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor, der sich als sehr robust erweist. Und das liegt vor allem daran, dass das China-Geschäft zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Grund für das andauernde Wachstum ist. Der zweite, womöglich entscheidendere Hauptgrund heißt: Einwanderung.

Einwanderer mit Visum und beruflicher Qualifikation lässt Australien in großer Zahl ins Land

Zwar hält Australien Bootsflüchtlinge mit extrem rigiden Methoden von seinen Küsten fern. Einwanderer mit Visum und am liebsten mit beruflicher Qualifikation lässt es aber in so großer Zahl ins Land wie sonst unter den westlich geprägten Staaten nur Kanada. So lebten 1991 etwa 17 Millionen Menschen im Land, Ende 2018 waren es schon 25 Millionen. Zum Vergleich: Wäre Deutschland seit der Wiedervereinigung ähnlich stark gewachsen, hätte es heute statt 82 etwa 120 Millionen Einwohner. Mehr Bevölkerung heißt natürlich auch: mehr Menschen, die arbeiten, konsumieren, das Bruttosozialprodukt steigern. So muss Australien angesichts der derzeitigen Wachstumsrate seiner Bevölkerung alle fünf Jahre eine Stadt von der Größe Münchens bauen.

Und es baut. In Perth etwa erstrecken sich die typischen Einfamilienhäuser inzwischen mehr als 100 Kilometer entlang der Strände des Indischen Ozeans. Kauf und Verkauf von Immobilien ist ohnehin eine nationale Obsession der Australier. Wer kann, kauft ein Haus. Wer bereits ein kleineres hat, kauft so bald wie möglich ein größeres. Und wer noch Platz im Garten hat, baut an. Möglich machen das die steigenden Immobilienpreise, die in den Städten seit Jahrzehnten ebenfalls nur eine Richtung zu kennen schienen: steil aufwärts. So konnten breite Bevölkerungsschichten auf den steigenden Wert ihrer Häuser immer größere Hypotheken aufnehmen, mit denen sie sich wiederum größere Häuser leisten konnten. Die Bau- und Immobilienbranche ist zusammen mit den zugehörigen Kreditgeschäften inzwischen der Sektor geworden, der das Wirtschaftswachstum am stärksten treibt.

Davon profitieren aber nicht alle. Immer weniger jüngere Australier können sich ein Eigenheim leisten, die Wohneigentumsrate ist zuletzt auf einen historischen Tiefstand von 63,5 Prozent gefallen. Wer trotzdem ein Haus kauft, muss sich tief verschulden. Ökonomen warnen vor dem Zeitpunkt, an dem die ebenfalls historisch niedrigen Zinsen wieder steigen und die Hauspreise fallen sollten. Dann könnten vor allem jene "Battler", die ohnehin mit relativ niedrigen Dienstleistungslöhnen und hohen Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben, in größte Schwierigkeiten geraten.

Warnzeichen sprechen dafür, dass sich die national-liberale Regierungskoalition von Premier Scott Morrison womöglich schon bald auf ökonomisch härtere Zeiten einstellen muss. Im zweiten Halbjahr 2018 und im ersten Quartal ist das Bruttoinlandsprodukt zwar insgesamt gestiegen. Pro Kopf aber ist es zurückgegangen. Auch Australiens Wirtschaftswunder könnte einmal zu Ende gehen.

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