Psychologie:Die Scheinriesen

Meinungsmacht lässt sich mit geringem Aufwand vorgaukeln, und die Menschen lassen sich zuverlässig davon beeindrucken. Auf diese Weise werden Verschwörungstheorien und Fake News verbreitet oder öffentliche Debatten in eine Richtung manipuliert.

Von Sebastian Herrmann

Es kann vorkommen, dass einen in Konferenzen Einsamkeitsgefühle beschleichen. Da sitzt man mit Menschen in großer Runde, die man teils gut kennt und schätzt, und doch taucht die Frage auf: Bin ich der Einzige, der das völlig anders sieht? Mit den Wortbeiträgen wächst das Befremden. Es geht um ein Thema, das Leidenschaften weckt, und jeder Vorredner steigert die Hemmung, sich selbst zu exponieren und der Einigkeit in die Beine zu grätschen. Erst in anschließenden Einzelgesprächen offenbaren sich andere stumme Teilnehmer, berichten von ihrer gefühlten Einsamkeit und sagen, dass auch sie das anders sehen. Der laute Konsens der Runde entpuppt sich als Illusion, die stille Mehrheit hat nur den Mund nicht aufbekommen.

Die Wortbeiträge der zornigen Scheinriesen beeinflussen dennoch die eigene Haltung. Psychologen um Sami Yousif und Rosie Aboody von der Yale University berichten gerade im Fachmagazin Psychological Science, dass ein falscher Konsens selbst dann Überzeugungskraft hat, wenn Menschen um dessen trügerisches Fundament wissen. Darauf weisen Ergebnisse hin, welche die Forscher in mehreren Experimenten erzielt haben.

Um das etwas sperrige Konzept eines illusorischen Konsenses zu veranschaulichen, wählen die Psychologen ein hypothetisches Beispiel: Angenommen, in einem Unternehmen wird über einen Sozialplan debattiert. Ein Arbeitnehmer fragt seine Kollegen, was von diesem Vorhaben zu halten sei und alle Gesprächspartner geben die gleiche Einschätzung ab. Das klingt nach einer klarer Sache, doch dann zeigt sich: Alle Befragten haben ihre Meinung auf Basis der Einschätzung einer Person aus dem Kollegium gebildet. Von wegen Konsens, es haben nur alle die Haltung eines Einzelnen nachgeplappert und aufgebauscht. Es wäre also Skepsis angebracht, doch offenbar ticken Menschen anders und lassen sich von solch gespielter Meinungsmacht blenden.

In ihren Experimenten modellierten die Psychologen ähnliche Szenarien, in denen Einschätzungen entweder auf Basis einer einzigen oder mehrerer unabhängiger Quellen entstanden. Mussten die Probanden den Wert der Informationen beurteilen, differenzierten sie nicht oder kaum, wie die Quellenlage aussah: Hauptsache es wirkte, als sei ein Konsens vorhanden. Besonders wenn es um komplexe Angelegenheiten geht, ist dieser Effekt wirksam.

Das Phänomen spielt bei der Verbreitung von Fake News eine Rolle

Das Phänomen spiele zum Beispiel in der Verbreitung von Fake News und Fehlinformationen eine Rolle, argumentieren die Psychologen. So stützen sich Klimawandelleugner oft im Kollektiv auf Aussagen einzelner Figuren, bauschen sie durch Wiederholung auf und suggerieren auf diese Weise, dass ihre Behauptungen gut abgesichert seien. Ähnlich verhält es sich mit der weltweiten Impfgegner-Bewegung: Im Wesentlichen stützen sich fast alle auf eine einzige, längst als Fälschung entlarvte Publikation. Auf ihr Publikum wirkt das jedoch so, als seien viele verschiedene Personen unabhängig zum gleichen Schluss gekommen, das stimmt aber nicht.

"Wenigstens in der Theorie ist ein Konsens ein starker Hinweis darauf, dass eine Aussage vertrauenswürdig ist", schreiben die Psychologen. Allerdings reagieren, so ließe sich das zusammenfassen, Menschen übersensibel darauf, wenn andere Mitglieder einer Gruppe oder etwa ihr Umfeld kollektiv eine Meinung vertreten. Schon Dreijährige neigen dazu, sich bei Meinungsverschiedenheiten auf die Seite der Mehrheit zu schlagen. Das klassische Beispiel für die Macht der Konformität sind die Experimente, die der Sozialpsychologe Solomon Asch in den 1950er-Jahren organisiert hatte. Der Forscher brachte viele seiner Probanden dazu, offenkundigen Blödsinn als korrekt zu bezeichnen, wenn zuvor nur ausreichend viele Personen diesen zur Wahrheit ernannt hatten.

In den Experimenten von Solomon Asch ging es darum, die Länge von Linien zu vergleichen, eine schier beschämend einfache Aufgabe. Der Alltag konfrontiert einen jedoch mit weitaus komplexeren Fragen. Und wenn es um Medizin, Politik, Geld oder andere Themen geht, dann seien die Entscheidungen anderer eben oft die besten Informationen, die einem zur Verfügung stehen, schreibt der Verhaltensforscher Cass Sunstein in seinem jüngst erschienenen Buch "Conformity". In Zeiten der sozialen Medien verhält es sich dummerweise so, dass die lautesten und radikalsten Stimmen die größte Öffentlichkeit finden. Das suggeriert eine Mehrheitsmeinung, die wahrscheinlich nicht zutreffend ist, als Entscheidungshilfe nicht viel taugt und in ihrer Vehemenz viele Menschen verstummen lässt.

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