Masern:Impfen ist keine Privatsache

Illustration Impfung

Ein kleiner Stich für den Patienten, ein großer Fortschritt für die Gesundheit: Das Bundeskabinett hat diese Woche die Masern-Impfpflicht beschlossen. Von März 2020 an müssen Eltern vor der Aufnahme ihrer Kinder in eine Kita oder Schule nachweisen, dass diese geimpft sind.

(Foto: dpa)

Jeder Piks mit der Spritze ist auch Körperverletzung, er tangiert das Selbstbestimmungsrecht. Warum eine Masern-Impfpflicht trotzdem dringend geboten ist.

Kolumne von Heribert Prantl

Polios heißt grau und Myelos ist das Mark; Poliomyelitis ist der medizinische Name der Kinderlähmung; sie heißt so, weil sich das Rückenmark der Kranken grau verfärbt. Die Bundesrepublik Deutschland hatte vor sechzig Jahren die höchsten Kinderlähmungsraten in Europa. Die schwere Epidemie von 1961 zählte 4653 Erkrankte, 3300 Gelähmte, 272 Tote.

Die DDR, die schon 1960 Massenschluckimpfungen eingeführt hatte, bot Impfstoff an. Aber der war aus der Sowjetunion und galt deshalb im Westen als fast so gefährlich wie Polio. Es war Kalter Krieg, die Berliner Mauer war gerade gebaut worden. Das Angebot wurde daher als vergiftet abgelehnt, und die Wirksamkeit der Impfung erst mal heruntergeredet. Erst als amerikanischer Impfstoff in die Bundesrepublik geliefert worden war, begann dort eine der intensivsten und nachhaltigsten Gesundheitskampagnen, die es je gegeben hat: "Schutzimpfung ist süß. Kinderlähmung ist grausam".

Ist Menschenwürde anpiksbar? Auch anstupsbar? Wo staatliche Fürsorglichkeit enden muss

Alfons Goppel, damals bayerischer Innenminister und später 16 Jahre lang Ministerpräsident, hob bei einer Pressekonferenz im Gesundheitsamt den Becher, leerte ihn in einem Zug und sprach: "Der Trunk schmeckt gut." Der Trunk bestand aus Zuckerwasser und dem neuen Polio-Impfstoff. Die Anzahl der Neuerkrankungen sank binnen eines Jahres um neunzig Prozent.

Nur so viel zur Behauptung etlicher Impfgegner, das Impfen mache krank. Andere Impfgegner sagen, dass Impfen "sowieso nicht hilft". Manche tun so, als seien die Kinderkrankheiten so etwas wie die Pickel der Pubertät. Es handelt sich freilich nicht um Pickel, sondern um Masern, Mumps oder Röteln. Da müsse man halt durch, sagen Impfgegner - gerade so, als gäbe es eine ehrliche Immunität, die man sich statt durch Impfung durch die "durchgemachte" Krankheit erwerben müsse. Die sogenannten Kinderkrankheiten sind aber nicht medizinische Formen von Firmung, Konfirmation oder Jugendweihe, sie sind auch kein Kindheitsabenteuer oder ein Ritterschlag der Moderne, sondern hochansteckende Infektionskrankheiten, die tödlich enden können.

Die Mediziner klagen über Impfmüdigkeit, die Zahl der Masernfälle steigt wieder von Jahr zu Jahr. Die Impfgegner, die sich und ihre Kinder nicht durch Impfung schützen wollen, verlassen sich auf den Passivschutz, der sich daraus ergibt, dass die Impfrate zwar sinkt, aber - noch - einigermaßen hoch ist. Weil ihnen, anders als in den Zeiten der Epidemien, die Großgefahr der schweren Krankheit nicht mehr präsent ist, kaprizieren sie sich auf die Kleingefahr der Impfung und garnieren die Kleingefahr mit Horrormythen. Zu den Impfgegnern dieser Art zählt auch der amerikanische Präsident, der viel twittert, wenn der Tag lang ist. Er hat einmal verkündet: "Healthy young child goes to doctor, gets pumped with massive shot of many vaccines, doesn't feel good and changes - AUTISM. Many such cases!" ("Gesundes Kind geht zum Arzt. Wird mit massiver Impfung von vielen Impfstoffen vollgepumpt, verändert sich - Autismus. Viele solcher Fälle!") Der Autismus-Unfug ist x-fach widerlegt worden, aber er gilt denen, die an eine Verschwörung der Gesundheitsindustrie glauben wollen, die angeblich nur ihre Impfstoffe loswerden will, als Beleg. Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen. Ob da dann eine generelle Impflicht hilft, eine Zwangsimpfung, wie sie soeben die Bundesregierung gegen Masern beschlossen hat?

Man darf Kritiker dieser Impfpflicht per Gesetz nicht einfach pauschal als "Impfgegner" abservieren. Viele haben nichts gegen Impfung, sind also keine Impfgegner; sie haben aber etwas gegen den staatlichen Zwang - sie sind also Zwangsimpfungsgegner. Das ist etwas anderes. Wer die Impfung für seine Privatsache hält, liegt zwar falsch, weil es keine Privatsache ist, wenn man andere ansteckt, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können; aber er ist deswegen kein Verfassungsfeind.

Es ist auch derjenige kein Verfassungsfeind, der einem paternalistischen Staat misstraut, der also befürchtet, dass die Fürsorglichkeit des Staates und der Krankenkassen obsessiv werden könnte. Wer will schon, dass man ihm vorschreibt, wie er sich zu ernähren, was und wie viel er also zu essen und zu trinken hat, wie und wie viel er sich bewegen muss - und zu diesem Zweck dann womöglich Auf- und Abschläge bei den Krankenkassenbeiträgen eingeführt werden, die man als "Nudging" bezeichnet, als angeblich freundliches Anstupsen in die angeblich richtige Richtung. Ist die Menschenwürde anstupsbar?

Ein Recht auf Impfung haben auch Kinder gegenüber impfkritischen Eltern

Wegen solcher fürsorglicher Übertreibungen, die es in der gesundheitspolitischen Debatte gibt und die manchmal gesundheitsdiktatorische Züge tragen, darf aber nicht das medizinisch dringlich Gebotene diskreditiert werden. Die Pflichtimpfung ist geboten. Es handelt sich um einen Pikser, nicht um eine Gesundheitspatrouille. Wenn sich einer oder eine lieber aufklären und überzeugen, als mit einer Bußgelddrohung von 2500 Euro traktieren lassen will, kann man eigentlich nichts dagegen haben. Die Kampagne gegen die Kinderlähmung hat seinerzeit auch ohne Impfpflicht funktioniert, und Aufklärung ist gewiss der allerbeste Impfstoff. Aber vor fünfzig Jahren war allgemein das Bewusstsein von der Infektion, Gefahr und Seuche vorhanden. Die Bilder der Eisernen Lungen, in denen Polio-Opfer jahrelang liegen mussten, waren als Warnung wirksamer als Paragrafen. Es wäre fatal, müsste man es erst wieder zur gefährlichen Epidemie kommen lassen, um den Menschen die Augen zu öffnen. Darum ist die Impflicht schon bei heraufziehender Gefahr wichtig. Sie hat medizinische Tradition: Bereits 1875 trat das Reichsimpfgesetz in Kraft; jedes Kleinkind musste gegen Pocken geimpft werden; zur Aufnahme in eine Schule musste ein Impfschein vorgelegt werden. So soll das von 2020 an in Kitas und Horten auch sein; wahrscheinlich die effektivste Maßnahme gegen die Impfmüdigkeit. Das ist nicht Nötigung durch den Staat, das ist elementare Daseins- und Gesundheitsvorsorge.

Gewiss: Die Impfpflicht - wie sie übrigens viele EU-Länder viel weitgehender kennen als Deutschland - berührt das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sie berührt das elterliche Erziehungsrecht, sie kann auch die Religionsfreiheit tangieren. Aber sie berührt die Grundrechte auf eine Art, die maßvoll, geeignet, erforderlich und angemessen ist. Der Impfpflicht entspricht ein Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Impfung. Ein solches Recht haben auch Kinder gegenüber ihren impfkritischen Eltern.

Ein kleiner Pikser. Ein großer Schritt.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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