Zeitgeschichte:Staatliche Scharfmacher

Martin Diebel enthüllt, wie Beamte in der frühen Bundesrepublik ein antidemokratisches Notstandsrecht erarbeiteten, das weit über die Gesetze der Großen Koalition hinausreichte.

Von Rolf Lamprecht

Der Schlüsselsatz am Anfang hält sich noch vornehm zurück; er spricht, scheinbar abstrakt, von "handelnden Akteuren", die "eine eigenständige politische Agenda verfolgten". Tatsächlich sind hohe Beamte des Bundesinnenministeriums (BMI) gemeint. Auf jeder weiteren Seite verrät das Buch "Die Stunde der Exekutive", wer hierzulande im Verborgenen mitregiert. Der junge Zeithistoriker Martin Diebel hat die an einen Staatsstreich erinnernden Pläne zusammengetragen, mit denen Spitzenkräfte des BMI zwischen 1949 und 1968 ein faschistisches Notstandsrecht in der Bundesrepublik etablieren wollten.

Der Autor erzählt unaufgeregt, dafür aber umso eindringlicher von einer unglaublichen Konspiration, die unter dem Stempel "streng geheim" ablief. Seine akribische Studie ist zugleich eine Dauerwarnung. Denn solche Spiele mit dem Feuer sind immer möglich. Mit einem Minister, der beide Augen zudrückt. Oder auch einem, der gar nichts sieht. Alles schon passiert. Denn nach dem geltenden "Ressortprinzip" leitet jeder Minister "seinen Geschäftsbereich selbständig"; keiner darf ihm "hineinregieren"; zugleich schöpfen clevere Staatsdiener "die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" bis zur Neige aus. So raffiniert, dass es keiner merkt. Wie viel Macht so ein Staat im Staat ausüben kann, beweist Horst Seehofer immer dann, wenn er mal wieder die Kanzlerin ungestraft brüskiert.

Man kann Diebels Buch auch als Bei-trag zu den Jubiläumsfeiern des Grundgesetzes lesen - mit der Erkenntnis, dass Gefahren dort schlummern, wo sie keiner vermutet, im Zentrum der Macht. Immerhin haben hohe und höchste Beamte zwei Jahrzehnte lang, unbemerkt von der Öffentlichkeit, Essentials der Verfassung wie das Streikrecht oder die Pressefreiheit zur Disposition gestellt. Sie erwogen Verhaftungen ohne richterliche Mitwirkung und spekulierten über die Einrichtung von "speziellen Internierungslagern". Dabei war ihnen der Bundesgerichtshof im Wege. Und sie wussten, wie Diebel herausfand, auch genau warum: weil die Bundesrichter da-zu tendierten, "den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung mit dem der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gleichzusetzen". Diese Interpretation enge die Sicherheitsbehörden ein; deshalb müsse der "unhaltbare" Vorrang demokratischer Freiheiten "per Notverordnung zugunsten staatlicher Sicherheit umgangen werden".

Kriegsausbruch am Sonntag? Man wollte auf alles vorbereitet sein - zu Lasten der Grundrechte

Offenbar habe das Sicherheitsbedürfnis der Verantwortlichen im Bundeskriminal-amt und im Bundesinnenministerium, resümiert der Autor, "jedwedes Verständnis für demokratische Rechte und grundlegende rechtsstaatliche Verfahrensweisen" überlagert - "von der historischen Sensibilität ganz zu schweigen". Stattdessen suchten die staatlichen Scharfmacher mit Schreckensvisionen ihren Aktionsradius zu erweitern: Sie müssten in der Lage sein, gegen "Banden entflohener Häftlinge" vorzugehen, "KPD-Untergrundkämpfer" dingfest zu machen und "straff geführte Spionage- und Sabotagetrupps" auszuschalten. In Zeiten des Ost-West-Konflikts verlieh der Hinweis auf die Möglichkeit eines deutsch-deutschen Bürgerkriegs jedem "Sicherheits-Anliegen" den richtigen Nachdruck. Und wenn das immer noch nicht half, wurden Angstfantasien mobilisiert: "ein Umsturzversuch während der Parlamentsferien", "ein direkter Bombentreffer auf den Regierungssitz", "ein Kriegsausbruch zum Wochenende". Weit hergeholt? Mitnichten! "Als mahnendes Beispiel für die Zwangslage eines Krieges wählte der Referatsleiter ausgerechnet den deutschen Überfall auf Polen im September 1939."

Studenten der Akademie der Bildenden Künste in München Deutschland streiken Protest gegen das Not

1968 wurde in der ganzen Bundesrepublik - wie hier in München - gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition demonstriert. Beamte im Innenministerium hatten aber noch viel weitreichendere Pläne.

(Foto: imago/WEREK)

Alles war unter Verschluss. Nur wenige Geheimnisträger kannten das ominöse "V-Buch". Im Ernstfall kam es auch auf die Bundesländer an, sie mussten partiell mitwirken. Deshalb wurden wohl oder übel ein paar Beamte eingeweiht. Aber kein Bürger. Ein ordentliches politisches Verfahren kam nie zustande.

Ironie der Geschichte: Es war ausgerechnet die ostdeutsche Stasi, die den demokratischen Diskurs in der Bundesrepublik beförderte. Honeckers gut informierter Geheimdienst publizierte die Schubladen-Verordnungen. Das Bundesinnenministerium kam nicht umhin, deren Authentizität zu bestätigen. Die öffentliche Diskussion, die eigentlich vermieden werden sollte, kam in Gang. Wissenschaftler, Gewerkschafter, Liberale aller Schattierungen nahmen die Entwürfe aus den Hinterzimmern unter die Lupe.

Wortführer der Kritiker war der Staats-und Verfassungsrechtler Helmut Ridder. Er verfasste im Auftrag der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) eine Streitschrift zu den geplanten Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Die VDW war ursprünglich gegründet worden, um den Widerstand gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr zu organisieren. Diebel: "Mit den Physikern Carl Friedrich von Weizsäcker, Max Born, Otto Hahn, Max von Laue und Werner Heisenberg gehörten fünf der namhaftesten deutschen Wissenschaftler zu den Gründungsmitgliedern der VDW." Nicht nur bei der VDW regte sich Widerstand, sondern mit dem IG Metall-Chef Otto Brenner an der Spitze auch bei den Gewerkschaften, die sich das Streikrecht nicht beschneiden lassen wollten.

Diebel zeichnet nach, wie sich - parallel zum Zeitgeist und Generationswechsel - das Bewusstsein im Ministerium veränderte. Die NS-belasteten Beamten, die 1949 da anknüpften, wo sie 1945 aufgehört hatten, waren mittlerweile im Ruhestand. Die jüngeren Beamten, im neuen Staat groß geworden, veränderten behutsam das Klima. Beileibe nicht radikal. Sie mochten sich zwar "mit der demokratischen Bundesrepublik arrangiert, sich ihr angepasst haben", aber wenn es hart auf hart kam, erwiesen auch sie sich als linientreue Notstandsbefürworter.

Martin Diebel: 
"Die Stunde der Exekutive"

Martin Diebel: Die Stunde der Exekutive. Das Bundesinnenministerium und die Notstandsgesetze 1949-1968. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019. 215 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

(Foto: Wallstein Verlag)

Die Wahrheit ist konkret. Der Brecht-Satz leistet gute Dienste, wenn es, wie hier, darum geht, staatliches Handeln transparent zu machen. Diebels Buch zeigt: Das Gesetz sucht die Öffentlichkeit - in den Ausschüssen des Bundestages, bei Debatten im Plenum, in Hearings und Pressekonferenzen, zumeist kontrovers, notfalls mit einer Stimme Mehrheit. Die Verordnung dagegen scheut die Öffentlichkeit, sie kommt zumindest ohne Öffentlichkeit aus. Sie wird in den Amtsstuben des Ministeriums konzipiert und formuliert, nicht selten in einer einzigen Amtsstube, etwa in der eines Ministerialdirektors.

Die Lektion von damals gilt auch heute noch: genauer hinsehen, tiefer schürfen

So gesehen enthält sein Buch eine brisante Botschaft. Bei Verordnungen kommt es unter Umständen nur auf einen Beamten an, auf einen, den die Öffentlichkeit nicht kennt. Weil die Personalakten geheim, weil sie in Deutschland heilig sind. Wenn die biografischen Daten eines Beamten ausnahmsweise mal offen liegen, ist das eine Rarität, die viel über das Innenleben der Exekutive aussagt. Diebel hat einige namhaft gemacht, vor allem solche mit brauner Weste und finsterer Vergangenheit.

Ein Blick hinter die Kulissen kann zeigen, dass ein einzelner womöglich mehr vermag als eine ansonsten einflussreiche politische Partei. Es kommt mithin darauf an, wes Geistes Kind dieser eine ist. Ihn näher kennenzulernen, ist fast so wie ein Sechser im Lotto. Diese seltene Erfahrung wurde der Öffentlichkeit mit der Affäre um den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen beschert.

Er fiel 2006 zum ersten Mal auf. Damals wollten die Amerikaner den Deutsch-Türken Murat Kurnaz, den sie von 2002 bis 2006 völkerrechtswidrig in Guantanamo eingesperrt hatten, nach Deutschland "überstellen". Maaßen, zuständig im BMI, empfahl eine Ablehnung: Kurnaz' unbegrenztes Aufenthaltsrecht sei verfallen, er habe mehr als sechs Monate außer Landes gelebt und sich auch nicht ordnungsgemäß bei den zuständigen Behörden gemeldet.

Rabulistik dieser Art hat die Jurisprudenz in Verruf gebracht. Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin wandte sich denn auch vehement gegen die Berufung des spitzfindigen Zynikers als Honorarprofessor an die FU Berlin. Sie nannte das Gutachten "falsch, empörend und unmenschlich". Ein vernichtendes Urteil, aber es tut einem Beamten auf Lebenszeit nicht weh.

Wie begründet das Misstrauen war, das manchen bei seinem Namen befiel, zeigte sich dann 2018, als Maaßen nach den Unruhen in Chemnitz die Machenschaften der Rechtsradikalen kleinredete. Wer legt für einen wie ihn noch seine Hand ins Feuer? Der Leser verdankt Diebel diese Lektion in Staatsbürgerkunde - genauer hinzusehen und tiefer zu schürfen! Wer sein Buch auf sich wirken lässt, hat einen anderen Titel vor Augen: "Die unheimliche Macht der Exekutive".

Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

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