EU-Kommission:Europas wilde Jahre beginnen gerade erst

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Ursula von der Leyen wird die EU in den kommenden Monaten unter anderem durchs Brexit-Drama navigieren müssen.

(Foto: dpa)

Ursula von der Leyen steht vor gewaltigen Herausfor­derungen: Sie muss einiges an Reparaturarbeit leisten und gleichzeitig große Visionen verbreiten. Dafür braucht sie vor allem eins: starke Staats- und Regierungschefs an ihrer Seite.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Im wochenlangen EU-Personalpoker rutschte in den Hintergrund, vor welchen ökonomischen Aufgaben Europa steht. Das sollte nun in den Blick rücken, nachdem Ursula von der Leyen zur Kommissionschefin bestimmt ist. Denn die Herausforderungen sind gewaltig, von innen wie außen. Europas wilde Jahre sind nicht vorbei. Sie beginnen gerade erst.

Außen steht Ärger mit Donald Trump an. Der US-Präsident könnte bald Strafzölle gegen Europas Autos und mehr richten. Vielleicht lässt er es auch, Trump ist selbst für Trump unberechenbar. In jedem Fall sollte von der Leyen die EU-Regierungen schnell auf eine Linie bringen. Bisher fehlt das. Die Deutschen etwa wollen Autozölle unbedingt verhindern. Ermöglichen würde das ein Abkommen, das den transatlantischen Handel insgesamt erleichtert. Aber dafür müssten die Mitgliedsstaaten Privilegien abbauen. Das erfordert Überzeugungskraft. Weniger Agrarprotektionismus wäre zeitgemäß. Europa würde von einem Handelsabkommen mit den USA unterm Strich profitieren. Die EU-Staaten müssen sich also rasch verständigen, sonst sind sie für Donald Trump ein leichtes Opfer.

Geschickt navigieren muss von der Leyen die Gemeinschaft auch durchs Brexit-Drama. Klar wäre es klug, den volkswirtschaftlichen Schaden für die EU-Staaten durch einen harten Brexit zu vermeiden. Eine Lösung darf aber nicht den Eindruck vermitteln, die Briten bekämen eine Mitgliedschaft light: Ohne Pflichten, doch mit den meisten Vorteilen der EU-Zugehörigkeit. Das ruft Nachahmer auf den Plan.

Beim Klimawandel steht die Kommissionschefin vor der Anstrengung, die ökologischen Notwendigkeiten mit den Konsequenzen für Regionen, Firmen und Verbraucher zu versöhnen. Dabei hilft die Überlegung, dass eine grüne Industriepolitik Klimaschutz bringt und gleichzeitig Jobs, wenn Firmen E-Mobilität oder Smart Citys entwickeln - und damit auf dem Weltmarkt bestehen. Ordoliberale sehen solche staatliche Förderung von Technologien kritisch, weil der Markt angeblich fast alles selber richtet. Diese Ablehnung gilt es angesichts des Vorgehens der beiden anderen großen Wirtschaftsmächte zu überdenken. China subventioniert erfolgreich Technologien aller Art - und die USA haben es besonders durch ihr Militär schon immer getan, ob bei Luft- und Raumfahrt oder Internetanwendungen.

Wenn sie sich für Industriepolitik öffnet, wird von der Leyen deshalb nicht zur Staatsinterventionistin. Es gibt noch genug Raum für klassische Marktwirtschaft. Europas Binnenmarkt, der für ungeheures Wachstum sorgt, entstand in den 80er-Jahren. Ihm fehlt die Erweiterung auf Dienstleistungen, Finanzen und Digitales. Unter Kommissionschef Jean-Claude Juncker passierte da wenig. Das ist eine Chance für seine Nachfolgerin, sich mit etwas zu profilieren, das Wohlstand schafft.

Die EU ist so stark oder schwach wie sie sich macht

Die erste Deutsche auf dem Brüsseler Chefposten seit 1967 wird aber nicht nur fürs Visionäre gebraucht. Sondern auch für Reparaturarbeiten. Ein Beispiel dafür ist die Währungsunion. Würde sie eine weitere Krise überleben? Vielleicht nicht. Wer unverantwortlich wirtschaftet, muss durchaus diszipliniert werden - und zwar bevor sich solche Schulden auftürmen wie in Griechenland vor Ausbruch der Krise. Nötig wäre eine stärkere Stabilitätskultur.

Diese könnte auch dadurch wachsen, dass Nationen das Gefühl bekommen, Teil einer starken Gemeinschaft zu sein. Im Euro-Raum können Regierungen nicht mehr wie früher einfach ihre Währung abwerten, um die Konjunktur kurzfristig wirksam (wenn auch langfristig nicht nachhaltig) anzuregen. Es bedarf neuer Mechanismen. Eine Rückversicherung für nationale Arbeitslosenkassen würde Ländern helfen, die Folgen einer Krise für ihre Bürger zu dämpfen.

Dass von der Leyen sich für so ein Modell einsetzt, wurde als Stimmenfang im EU-Parlament abgetan. Es könnte ganz im Gegenteil ein Zeichen dafür sein, dass die neue Kommissionschefin bereit ist, tradierte deutsche Denkmuster über Europa zu durchbrechen. Fällt der Begriff Brüssel, tun gerade Konservative bisher oft so, als ginge es ihnen ans Portemonnaie. Dabei profitiert Deutschland von der EU so stark.

Ein Konservativer, der das beherzigte, war Ex-Kanzler Helmut Kohl. Ein gutes Stichwort: Will Ursula von der Leyen gestalten, braucht sie an ihrer Seite nun Staats- und Regierungschefs, die ihr Spielraum geben. Das war zuletzt nicht so der Fall. Helmut Kohl und François Mitterrand dagegen taten es damals. Mögen ihre Nachfolger durch die Machtdemonstrationen der Hegemone USA und China erkennen, dass Europa jetzt eine starke Chefkommissarin braucht. Die EU ist so stark oder schwach, wie sie sich macht.

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