Nachruf:"So ist die Welt .  So ist der Mensch"

München: Allerheiligenhofkirche - Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen / 70 Jahre Ende WK II

„Ich bestand darauf, dass wir uns überall, wo wir uns befinden, in welcher Welt auch immer wir leben, am Fortschritt beteiligen können. Und dass es eine gute Tätigkeit ist, sich für Verbesserung zu engagieren." - Ágnes Heller (1929-2019).

(Foto: Johannes Simon)

Holocaust-Überlebende, Dissidentin, Professorin, Orbán-Kritikerin. Sie hat mehr Geschichte erlebt, als Normalsterbliche verkraften. Am 19. Juli ist die große Philosophin Ágnes Heller gestorben.

Von Willi Winkler

Im vorletzten Kriegsjahr stand sie mit ihrer Mutter an der Donau und sollte erschossen werden. Die Pfeilkreuzler hatten die Juden von Budapest zusammengetrieben, der Vater war bereits nach Auschwitz deportiert. Unterwegs war sie dem gleichaltrigen Imre Kertész begegnet, auch er unterwegs ins Konzentrationslager. Nur der Sprung ins Wasser hätte sie noch retten können, als sich die ungarischen Faschisten überraschend zurückzogen. Ágnes Heller, fünfzehn Jahre alt, überlebte, aber da war immer das Wasser; Jahre brauchte sie, um gegen den Sog anzukämpfen, nicht doch noch von der Brücke hineinzuspringen. Der Vater war im Lager gestorben, ehe die Rote Armee Auschwitz befreien konnte. Die Tochter jubelte bei der Ankunft der Russen und wurde Kommunistin. Den Glauben an Gott hatte sie bereits mit zehn aufgegeben, aber nicht den Traum, das "Absurdeste für ein Mädchen" zu versuchen, wie es ihr Vater genannt hatte: Sie wollte studieren, aber auch einen Mann und Kinder haben und berühmt werden wie Marie Curie. Seit sie Georg Lukács gehört hatte, den "menschgewordenen Logos", musste es Philosophie sein.

Der ungarische Aufstand von 1956 war für sie die bisher "einzige echte sozialistische Revolution"

"Auch Philosophen haben eine Lebensgeschichte", erklärte sie im Rückblick mit 88 Jahren. "Eine Philosophin sollte sich zumindest nach theoretischen Vorschlägen umsehen, die ihre Lebenserfahrungen nicht ignorieren. Ich suchte sie und fand sie." Mit einer List, so erzählt sie es in ihren Erinnerungen, denen sie den Titel "Der Affe auf dem Fahrrad" (1999) gab, redete sie dem verehrten Lukács das Thema aus, das er ihr zugedacht hatte, die Ethik ausgerechnet bei Lenin. Aus seinen Jahren im Moskauer Exil hatte Lukács einen brettharten Stalinismus mitgebracht, der ihn zunächst auf einen Ästhetiklehrstuhl führte. Trotzdem fiel er rasch in Ungnade und mit ihm seine eifrigste Schülerin. Die Aufständischen vom Oktober 1956 machten ihn zum Kultusminister. Die russischen Panzer ließen jedoch ihrer nicht spotten und walzten die Revolte nieder. Lukács wurde ins innere Exil gedrängt, Heller flog zum zweiten Mal aus der Partei.

Der ungarische Aufstand war das wichtigste politische Ereignis in ihrem Leben, "die einzige echte sozialistische Revolution, die es je gab". Das verband sie mit Hannah Arendt, mit der sie so oft verglichen wurde. Dabei verübelte sie ihr aber, dass die Ältere als treue Luxemburgianerin daraus die Bestätigung des Rätegedankens und einer direkten Demokratie ableitete. "Direkte Demokratie ist terroristisch."

Der bekennenden Epikureerin war der Leib näher als jede Ideologie

Die Sommerschule von Korčula, wo sich seit 1963 dissentierende Kommunisten aus dem Osten mit neomarxistischen Freigeistern aus dem Westen trafen, wurde im August 1968 vom Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag überrascht. Ágnes Heller und ihr Mann Ferenc Fehér beteiligten sich an einer Resolution, in der dieser Überfall verurteilt wurde. Vor ihr saß ein weiterer marxistischer Patriarch, der praktisch blinde Ernst Bloch. Er ließ sich aufs Podium führen und küsste sie für diesen Appell, der ihr und dem gesamten "Budapester Kreis" um Lukács zu Hause neue Pressionen einbrachte. In bestem Stalinistisch wurden sie gerügt, weil ihre Überlegungen "auch wohlmeinende junge Leute gefährden" würden, "die nach den Idealen des Sozialismus suchen, die sich aber wegen ihres Mangels an intellektuellem Rüstzeug, Festigkeit, Lebenserfahrung und revolutionärer Praxis leicht durch verlockende pseudo-theoretische Phrasen und unwissenschaftliche Manipulationen täuschen lassen könnten".

Die armen jungen Menschen erfuhren zumindest im Ostblock wenig davon, doch Ágnes Heller wurde ein Star im Westen. Die Bindung vor allem der italienischen KP an Moskau lockerte sich, der Eurokommunismus sehnte sich nach sozialistischen Alternativen. Ihre Arbeiten waren zwar bis auf wenige Aufsätze völlig unbekannt, weil sie auf Ungarisch geschrieben waren, doch wurde bald deutlich, dass sie zu den wenigen gehörte, die nicht nur den Kapitalismuskritiker Marx, sondern auch den Linkshegelianer Marx weiterdenken konnten. "Er sah im Kommunismus einen gesellschaftlichen Prozess, in dem die qualitativen, nichtentfremdeten menschlichen Bedürfnisse sich immer mehr gegenüber den existenziellen und den entfremdeten quantitativen Bedürfnissen durchsetzen."

In ihrer "Theorie der Bedürfnisse nach Marx" (1976) pfeift sie bereits auf Klassenkampf und die Diktatur der Arbeiterklasse, gibt aber nicht die Utopie einer Gesellschaft ohne soziale Hierarchien auf, in der es keine Ausbeutung und keine Unterdrückung mehr gibt, und der Mensch sich, weil (hoffentlich) die ökonomischen Voraussetzungen vorliegen, nach seinen Vorlieben und Interessen verwirklichen kann.

1977 hatte Heller das repressive Ungarn verlassen und eine Stelle in Melbourne angenommen. Von dort wechselte sie 1986 an die New School for Social Research in New York, wo sie einen nach Hannah Arendt benannten Stiftungslehrstuhl erhalten hatte. Gegen Jürgen Habermas, der in der Gerechtigkeit das entscheidende ethische Problem sah, bestand sie auf dem Primat der Freiheit, um die sie jetzt, nach ihrer Ankunft im Westen, zu fürchten begann. Sie war dem sowjetischen Ostblock entkommen und wunderte sich über die Friedensbewegung, die für sie östlich infiltriert war.

In der "Philosophie des linken Radikalismus" (1978) setzt sie sich mit dem gleichaltrigen Habermas auseinander, er allerdings, wie er selber betont, "vom geschichtlich-politischen Schicksal verschont und begünstigt". Ja, sagt sie, "Menschen können als gleich rationale Kreaturen miteinander in Diskussion treten, da kann die Diskussion wahrlich herrschaftsfrei, jedoch nicht machtfrei sein. Wie ich es schon oft getan habe und weiter tun werde, möchte ich auch hier betonen, dass Menschen nicht nur Ratio, sondern auch Leib sind."

Als bekennender Epikureerin musste ihr der Leib näher sein als jede Ideologie. In der "Theorie der Gefühle" (1980) führte sie aus, was sie noch unter Lukács' Aufsicht in den Sechzigern als Studie über das "Alltagsleben" (auf Deutsch erst 1978) begonnen hatte.

Vielleicht hat sie den Geschichtschiliasten Lukács nie mehr so überhegelt wie in ihrer (bisher nur auf Englisch vorliegenden) Studie über "Shakespeare als Geschichtsphilosoph", die natürlich den auf "Hamlet" anspielenden Titel "Die Zeit ist aus den Fugen" (2002) tragen musste. Darin beschäftigt sie sich auch mit Ophelia, diesem "paradigmatischsten unschuldigen Opfer der Geschichte", der Hamlet empfiehlt, im Kloster zu verschwinden, die aber ins Wasser geht. "Diese Opfer treiben, mit Blumen überschüttet, auf dem Wasser der Geschichte, solange wir uns an sie erinnern."

Das Leiden der Unschuldigen sei ohne tiefere Bedeutung, sondern nur Elend. "So ist die Welt. Man nennt es Geschichte. So ist der Mensch." Eine Philosophin, die von sich erklärt, sie vertraue niemandem mehr als der Klugheit Shakespeares, hat nicht nur den Hamlet, sondern auch viel von der Welt verstanden, die seit je aus den Fugen ist.

Sie verabschiedete sich nicht vom "beherrschenden Pathos ihrer Jugend"

So ist die Welt von gestern auch die von heute. Nach der Wende kehrte Heller zurück nach Budapest, nur um zu erleben, dass jemand "Juden raus!" an ihre Bürotür in der Budapester Universität geschmiert hatte. Die Fidesz-Propaganda raunt von der antichristlichen, also jüdischen Weltverschwörung, die der philanthropische Investor George Soros anführt, und wieder von wissenschaftlichen Manipulationen. Vom nicht nur marxistischen Fortschrittsoptimismus hatte sie sich längst verabschiedet, aber nicht vom (wie sie es nennt) "beherrschenden Pathos meiner Jugend". "Ich bestand darauf, dass wir uns überall, wo wir uns befinden, in welcher Welt auch immer wir leben, am Fortschritt beteiligen können. Und dass es eine gute Tätigkeit ist, sich für Verbesserung zu engagieren. Das glaube ich immer noch."

Unermüdlich reiste sie bis zuletzt um die Welt, beteiligte sich an Symposien, hielt Vorträge, nahm fast alle bedeutenden Preise entgegen. Den Lesern, die überfordert sein sollten vom schieren Umfang ihres Werkes, gab sie 2017 eine "Kurze Geschichte meiner Philosophie" an die Hand. In zahlreichen Interviews zu ihrem neunzigsten Geburtstag im Mai beklagte sie den wachsenden Antisemitismus nicht nur in Ungarn. Sie bezeichnete Viktor Orbán als "Tyrannen", wollte aber von ihrer chronischen Lebensfreude nicht lassen. Gegen den neuen Nationalismus hoffte sie - da mit Habermas wieder einig - auf ein föderales Europa. "Paradox Europa" wurde ihre letzte Veröffentlichung.

Am vergangenen Freitag ist sie im ungarischen Balatonalmádi auf den See hinausgeschwommen und nicht mehr lebend zurückgekommen. Ágnes Heller wurde gesegnete neunzig Jahre alt und hat mehr Geschichte erlebt, als der Normalsterbliche verkraftet. Zuerst war sie ihr Opfer, aber dann wurde sie die Philosophin dieser Geschichte, und ist wie Ophelia mit Blumen überschüttet, solange wir uns an sie erinnern.

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