Prantls Blick:Die fortwährende Kraft des 20. Juli 1944

Prantls Blick: Hitlers Hauptquartier nach dem Anschlag.

Hitlers Hauptquartier nach dem Anschlag.

(Foto: AFP)

Widerstand gegen den Neonazismus und den neuen Rassismus - das ist die Form des Gedenkens, die immer Jahrestag hat.

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wir gedenken. Dieses Gedenken ist aber nicht nur ein Jahrestag; es ist nicht nur, wie soeben, eine feierliche Stunde im Bendler-Block zu Berlin; es ist nicht nur die Sache eines Wochenendes Mitte Juli 2019, an dem sich die gescheiterte Erhebung gegen Hitler zum 75-ten Mal jährt. Das Gedenken an den Widerstand erschöpft sich nicht in der bloßen Erinnerung und Betrachtung dessen, was war. Das wäre zu wenig. Warum?

Braune Renaissance

Weil, wie sich zeigt, im Deutschland von heute der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das Braune kroch. Ein Gedenken, das nur gedenkt und nicht zugleich ernst und ernsthaft gegen die Neonazis von heute vorgeht - es wäre, es ist ein schales Gedenken. Der Widerstand gegen den Neonazismus ist die Form des Gedenkens, die immer Jahrestag hat.

Wir denken an den Widerstand gegen Hitler und die Nationalsozialisten. Wir denken an Claus Schenk Graf von Stauffenberg, an den Aufstand des schlechten Gewissens. Wir denken an die Weiße Rose, wir denken an einen journalistischen Märtyrer wie Fritz Gerlich, der Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten war; die Nazis haben ihn zu Tode gefoltert. Der Name seiner Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten, steht heute als Untertitel der Süddeutschen Zeitung auf deren Seite 1.

Wir denken an den Weg Deutschlands zum Grundgesetz, der durch die Abgründe der Geschichte führt. Er führt vorbei an den Konzentrationslagern, er führt vorbei an den Orten, denen man das Unrecht heute nicht mehr ansieht. Der Münchner Justizpalast zum Beispiel war von 1933 bis 1945 ein Palast des Unrechts. Wenn Steine reden könnten. Sie würden reden davon, wie am 22. Februar 1943 der eigens aus Berlin angereiste Roland Freisler dort den kurzen Prozess gegen Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst führte, wie er tobte, wie er brüllte. Er schrie die Angeklagten nieder der Flugblätter wegen, die sie geschrieben hatten. Diese Flugblätter waren in den Augen von Freisler und der Nazi-Ankläger die Lügenpresse.

Der Versuch der feindlichen Übernahme

Es gehört zu den Perversitäten des neuen Rechtsextremismus, dass ausgerechnet er sich auf Stauffenberg und den Widerstand vom 20. Juli 1944 beruft, um zum Bruch mit dem "System", also der rechtsstaatlichen Demokratie, aufzufordern. Es ist diese der Versuch der feindlichen Übernahme des Gedenkens. Die Pegidisten, die Neorechten und Neonazis, die von Widerstand reden und Menschenverachtung propagieren - sie betreiben Erbschleicherei. In braunen Netzwerken wird so getan, als seien die demokratischen Parteien eine zu stürzende, volksverräterische Herrscherclique. So wird der Widerstandsbegriff pervertiert, er wird von den Grund- und Menschenrechten getrennt, für die der Widerstand gegen Hitler gekämpft hat; der Begriff des Widerstands wird angefüllt mit völkischem Gebräu und populistischem Extremismus. Es ist dies eine Verhöhnung des Andenkens an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Es bedarf dagegen des kleinen Widerstands.

Was der 20. Juli lehrt

Der 20. Juli steht Pate für den Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes, in dem es heißt: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." In diesem Widerstandsartikel steckt die Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen, dass es den großen Widerstand braucht - dieser Artikel ist auch die Aufforderung zum kleinen Widerstand. Der Gedenktag des 20. Juli lehrt, schon den Anfängen von Menschenverachtung entgegenzutreten.

Kleiner Widerstand: So hat das der 2001 verstorbene Münchner Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann genannt. Der kleine Widerstand sei die bewegende Kraft, der das Recht und der Rechtsstaat zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedürfen. Gemeint sind Widerspruch und Zivilcourage, gemeint sind die Whistleblower; gemeint ist das, was oft als Gutmenschentum denunziert wird. Der kleine Widerstand hat die Namen all derer, die Missstände nennen und gegen Unrecht nicht nur im Eigeninteresse anrennen - sei es in Pflege- oder in Flüchtlingsheimen.

Auf den Flugblättern der Geschwister Scholl standen unter anderem diese Sätze: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!" Und: "Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen." Diese Sätze haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, auch in der gegenwärtigen. Jeder und jede muss für sich nachdenken, was ihm und was ihr das heute sagt und wozu es ihn und sie verpflichtet.

Der Mantel der Gleichgültigkeit

Es gibt, damals wie heute, die Formeln, die man gern zur Beschwichtigung oder zur Tarnung der eigenen Bequemlichkeit benutzt, zur Ausrede dafür, warum man selber nichts tun kann: "Alleine kann man ja doch nichts bewirken." So oft heißt es also: "Was soll man machen?" Es sind Sätze der Gleichgültigkeit, Sätze der Trägheit, der Apathie, der Resignation, manchmal auch der Feigheit. In uns allen stecken solche Sätze: "Was soll man machen? Da kann man gar nichts machen." Und: "Nach uns die Sintflut". Eine Demokratie kann man aber mit solchen Sätzen nicht bauen. Einen guten Rechtsstaat auch nicht. Und die Menschenrechte bleiben, wenn man solchen Sätzen nachgibt, papierene Rechte.

Wer vom Mut der Widerständler gegen Hitler spricht, vom Mut der Weißen Rose, vom Mut des Georg Elser, vom Mut des Grafen Stauffenberg, des Carl Goerdeler, wer diesen Mut vor Augen hat - der tut sich allerdings schwer, dieses Wort in einer Gegenwart zu gebrauchen, in der Mut wenig kostet. Ist der Mut von damals aber nicht umso mehr Mahnung und Verpflichtung?

Nachdenkliche Gedanken also zum Beginn der großen Ferien. Am Ende dieser Ferien stehen Wahlen in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen. Es wäre schön, wenn der kleine Widerstand bei diesen Wahlen spürbar wäre.

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