Straßenproteste in Russland:Die "immense Arroganz der Macht" macht die Menschen wütend

Protestaktion in Sankt Petersburg am 24. Juli 2019 gegen die Manipulation der bevorstehenden Regionalwahl

Protestaktion in Sankt Petersburg am 24. Juli 2019 gegen die Manipulation der bevorstehenden Regionalwahl: Auf den Schildern, die die Demonstranten hochhalten, steht "Wir haben ihn satt" (unter Bezug auf Wladimir Putin) sowie: "Wir wählen hier!".

(Foto: AP)

Vorläufiger Höhepunkt einer Protestwelle in Russland: Am heutigen Samstag dürften Tausende in Moskau demonstrieren - ohne Genehmigung. Die Obrigkeit wird darum hart durchgreifen, glaubt die Politologin Lilia Shevtsova.

Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Noch nie hat eine Regionalwahl in Russland einen solchen Aufruhr verursacht: Seit vor knapp zwei Wochen deutlich wurde, dass viele Oppositionskandidaten von den Wahlkommissionen zu dem Urnengang am 8. September nicht zugelassen werden, gehen die Menschen auf die Straße.

Vor wenigen Tagen hatte der Oppositionspolitiker Aleksei Nawalny dazu aufgerufen, am heutigen Samstag zu einer Kundgebung vor das Moskauer Rathaus zu ziehen. Doch diese Demonstration ist nicht genehmigt, darum wurde Nawalny am vergangenen Mittwoch für 30 Tage in Gewahrsam genommen. Auch denjenigen, die dem Aufruf folgen, droht ein hartes Durchgreifen der Polizei, womöglich auch Freiheitsentzug. Die Sicherheitsbehörden warnten öffentlich vor einer Teilnahme und rieten zum Fernbleiben. Lilia Shevtsova, Moskauer Politologin und Russland-Expertin der Londoner Denkfabrik Chatham House, spricht über die Hintergründe des Protests.

SZ: Warum protestieren die Menschen in so großer Zahl? Bis vor kurzem kannten sie oft nicht mal die Namen der Delegierten in den Stadtparlamenten?

Lilia Shevtsova: Das hat mehrere Gründe. Zunächst einmal gibt es inzwischen eine neue Generation junger Oppositionspolitiker, die bereit sind, die Kärrnerarbeit zu leisten, die eine demokratische Basisbewegung erfordert. Das heißt: Diese Leute gehen tatsächlich von Haus zu Haus und sprechen mit den Menschen, und so entsteht natürlich eine größere persönliche Verbundenheit mit der Wählerschaft.

Viele Russen sind von ihren Politikern ja auch enttäuscht, weil sie sie für korrupt halten. Sind diese jungen Aspiranten weniger käuflich?

Das wird man auf Dauer sehen müssen. Aber zumindest wissen sie, welche Probleme die Menschen vor Ort haben, und sie finden den richtigen Ton, wenn sie Lösungen vorschlagen. Außerdem vermitteln sie glaubhaft den Eindruck, dass sie sich für die wirtschaftlichen Interessen ihrer Wähler einsetzen werden.

Den Eindruck, dass er die Probleme der Menschen ernst nimmt, vermittelte erst kürzlich auch wieder Wladimir Putin in der Fernseh-Fragestunde "Der direkte Draht".

Das mag sein. Nur dann geschieht in der Folge eben nichts, was die Lebenssituation der Menschen tatsächlich verbessert. Und auf lokaler Ebene wird die Selbstbedienungsmentalität der Politiker im täglichen Leben erkennbar. Diese immense Arroganz der Macht bei gleichzeitigem Stillstand macht die Menschen wirklich wütend.

Straßenproteste in Russland: Lilia Shevtsova hat eine lange Karriere als Politikwissenschaftlerin hinter sich. Die 67-Jährige lehrte bereits an der University of California in Berkeley und war für die Brookings Institution in Washington D.C. tätig. Derzeit ist die Russland-Expertin, die in Moskau lebt, assoziierte Fellow der Londoner Denkfabrik Chatham House.

Lilia Shevtsova hat eine lange Karriere als Politikwissenschaftlerin hinter sich. Die 67-Jährige lehrte bereits an der University of California in Berkeley und war für die Brookings Institution in Washington D.C. tätig. Derzeit ist die Russland-Expertin, die in Moskau lebt, assoziierte Fellow der Londoner Denkfabrik Chatham House.

(Foto: Johannes Jansson CC BY 2.0)

Wie wird die Staatsmacht auf Dauer mit den Protesten umgehen? Wenn sie weiter fast ausschließlich mit Härte reagiert, riskiert sie den Schulterschluss der Oppositionellen, die bislang oft untereinander zerstritten sind.

Das ist genau der Punkt, der den Behörden im Augenblick das größte Kopfzerbrechen bereitet. Aber nachzugeben ist keine Option für sie. Die Staatsgewalt hat Angst vor dem Gorbatschow-Syndrom, das das System zum Einsturz brachte, nachdem es zuvor von innen heraus liberalisiert worden war. Die derzeit herrschende Klasse wird diesen Fehler niemals wiederholen.

Das heißt, die Situation könnte eskalieren?

Noch ist der Protest kein Tornado. Die Welle der Empörung ist für die Behörden noch beherrschbar. Um die Kontrolle zu behalten wird die Obrigkeit die Repression meiner Meinung nach mit Maßnahmen kombinieren, die die Opposition spalten sollen. Deswegen wird sie vielleicht doch noch einigen Kandidaten den Zugang zur Wahl gewähren, die bislang nicht zugelassen waren. Das könnte die Solidarität unter den Protestierenden aufweichen.

Wie könnte die Staatsmacht den Einfluss zurückgewinnen, den sie dadurch verloren hat, dass selbst viele regimetreue Kandidaten nicht mehr bereit sind, für Einiges Russland anzutreten, weil die Regierungspartei als korrupt gilt?

Eine Wiederbelebung von Einiges Russland wird kaum gelingen. Die Regierung kann diesen Verlust an Einfluss und Reputation daher nicht auf dem üblichen Weg, also durch Repression und Manipulation, wiederherstellen. Die Gefolgschaft im Apparat ist der Partei gegenüber zwar noch loyal. Doch sie kann durch die Wähler jetzt dazu gezwungen werden, verbindlichere Aussagen zu machen.

Warum?

Weil die Wähler aufgrund der Informationen mündiger geworden sind. Doch eine richtig große Protestbewegung wird nicht entstehen können, weil es in den regionalen Strukturen keine organisierte Alternative gibt. Der Kreml wird die Formation einer solch gegliederten Oppositionsbewegung auch niemals zulassen. Damit bleibt Russland in Zukunft nur eine Option: ein Aufruhr in den Straßen mit unvorhersehbarem Ausgang - und davor hat sogar die Opposition Angst.

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