19. Jahrhundert:Die höhere Kunst

Portrait de Clara Schumann 1819 1896 femme de Robert Schumann AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT PUBLIC

Werk ihres Vaters: Die spätere Clara Schumann wurde 1819 in Leipzig als Tochter des Theologen und Musikers Friedrich Wieck geboren. Sie ist eine der wenigen weiblichen Musikikonen des 19. Jahrhunderts.

(Foto: imago/Leemage)

"Ach wär' doch mein Vater ein anderer": Die Jugendtagebücher von Clara Schumann sind erstmals vollständig ediert und geben Einblicke in ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater.

Von Helmut Mauró

Am zwölften September 1840 war es endlich soweit. Die zwanzigjährige Clara Wieck, als Pianistin bereits europaweit bekannt, und Robert Schumann, dessen Ruf der künftige Schwiegervater Friedrich Wieck zu ruinieren versucht hatte, gaben sich in Leipzig-Schönefeld das Ja-Wort. Es musste gerichtlich erzwungen werden, denn der eifersüchtig über sein Wunderkind, ja sein Lebenswerk wachende Wieck hatte bis zuletzt versucht, die Verbindung seines Klavierschülers Schumann mit seiner Tochter zu verhindern. Clara geriet dabei in tiefe Verzweiflung, der neun Jahre ältere Schumann machte ihr Mut, war der große Ruhepol für die junge Frau. Gleichzeitig arbeitete er sich an zahlreichen Klavierkompositionen ab und komponierte allein im Hochzeitsjahr 150 Lieder. Es sind, zumindest zum überwiegenden Teil, Liebesbezeugungen an Clara, die immer wieder hin und hergerissen ist.

Wie sehr sie die verfahrene Situation mit dem Vater in die Krise stürzt, belegen ihre jetzt erstmals vollständig edierten, vorbildlich aufgearbeiteten Jugendtagebücher, die Vater Wieck 1827 - in Ich-Form - begann und noch bis in Claras 40. Lebensjahr in seinem Besitz behielt. Der Herausgeber Gerd Nauhaus hat die jeweilige Autorenschaft penibel untersucht und im Text vermerkt. Dieses Tagebuch ist durchaus ein pädagogisches Instrument. Auch hierin lebte Friedrich Wieck einen Kontrollzwang aus, der seine pädagogische Begabung bisweilen überbot. Seine Tochter litt darunter, hatte aber irgendwann beschlossen, sich damit abzufinden, weil der Gewinn, den sie daraus zog, und die väterliche Zuneigung, die sie auch darin sah, alles andere wettmachte. Wieck unterrichtete seine Tochter nicht nur sehr professionell, er organisierte Konzerte, sorgte als Klavierhändler für gute Instrumente, knüpfte hilfreiche Verbindungen, schrieb in alle Welt Briefe und Tagebucheinträge voller Bewunderung für das Talent seiner Tochter.

Gleichzeitig liest man in Schumanns "Leipziger Lebensbuch": "Wieck sehr artig, Clara kindisch einfältig." Sie spiele jetzt wie ein "Husar", "wie ein Cavallerist, und, was ihn besonders geschmerzt haben dürfte, sein Stück "Papillons" recht "unsicher und unverständig". Schumann vermisst "Zartheit", "so seelenvoll und gesund schwärmerisch der Vortrag ist". Gleichwohl wurde aus dem vermeintlichen Wunderkind eine technisch und musikalisch reife Musikerin, am Ende eine der wenigen weiblichen Musikikonen des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus. In einer Zeit also, als die Konkurrenz an Pianisten und Komponisten beachtlich war und die Musik beinahe den Rang einer Leitkunst einnahm, in der sie höchsten geistig-intellektuellen Anspruch erhob und mit einer Mischung aus origineller Inspiration und wissenschaftlichem Ernst betrieben wurde.

All diese Bezüge findet man in anschaulicher Berichterstattung in diesen Tagebüchern. Fragen nach den Bedingungen und der Relevanz, der ästhetischen Ausformung und den Wirkungsmechanismen von Kunst, ja nicht zuletzt nach der Karriere- und Finanzplanung, sind allgegenwärtig. Nicht nur Friedrich Wieck, sondern auch Clara brennen diese Fragen auf den Nägeln. Sie hat sich ihren Einfluss auf das Musikleben der Zeit ausdauernd erarbeitet, behielt die Fäden sowohl beruflich, als auch familiär, stets in der Hand. Im Grunde über den Tod 1896 hinaus, denn sogleich begann eine wahrlich boomende Erinnerungskultur. Die Behauptung, Clara sei nur als Frau von Robert Schumann im allgemeinen Gedächtnis, ist meistenteils ideologisch motivierter Unsinn.

"Ich kann wohl sagen, ich hab so schlechte Musik noch nicht gehört"

Sechs Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte Berthold Litzmann die erste und bis heute gültige Biografie, ließ zehn Jahre später bereits die fünfte Auflage drucken und mitten im Ersten Weltkrieg eine weitere vorbereiten, die im September 1917, in Zeiten größter Mangelwirtschaft, erschien. Es folgten noch viele Auflagen dieses dreibändigen Werkes, das "zu einem deutschen Hausbuch geworden" war, wie der Autor stolz berichtet. Zu diesem Erfolg trug Clara Schumann selber am meisten bei. Ihre Tagebücher und Briefe, die Litzmann ausführlich zitiert, bieten Stoff für mehrere Romane. Anders als in den späteren ehelichen Haushaltsbüchern findet sich hier wenig Banales, aber durchaus Privates und nicht für die - sofortige - Veröffentlichung Geeignetes. Urteile über Konkurrentinnen sind vernichtend, die über sich selbst manchmal auch.

Die Achtzehnjährige bewundert Bettine von Armin: "Höchst geistreiche Frau". Allerdings, "was die Musik betrifft, lauter falsche Urtheile!" Bettine wird sich später sehr abfällig über Clara äußern. Eindeutig auch das Urteil über die Komponistin Elisabeth von Zschock, von der Clara im Dezember 1839 ein Oratorium hört, das die Komponistin selbst dirigiert: "Ich kann wohl sagen, ich hab so schlechte Musik noch nicht gehört ... Es ist doch recht schlimm wenn Dillettanten, die gänzlich talentlos sind sich an solche Compositionen wagen, und dann noch sich einbilden das außerordentlichste geleistet zu haben." Selbst wenn man Claras fachliche Kompetenz angesichts einiger Einschätzungen und Ratschläge an Brahms ein bisschen relativieren will, so hat sie doch ein ziemlich scharfes Ohr für musikalische Wirkung.

Dazu ein ebenso aufmerksames Auge, wenn sie das Gefühl hat, es werde mit unlauteren Mitteln gearbeitet und die Kunst dabei verraten. All dies sieht sie in der Pianistin Camilla Pleyel, Schwiegertochter des legendären Klavierbauers Ignaz Josef Pleyel. Bevor sich Clara noch selber einen Eindruck machen kann, wird ihr von Madame Mendelssohn schon das Wesentliche berichtet, "besonders von ihrer merkwürdigen Coquetterie, womit sie alle Männer in ganz Leipzig bezaubert habe, Kistner und Andere sind ihr sogar nach Dresden voran gereist ... Den Erlkönig soll sie der Devrient so schön begleitet haben, daß sie sie ganz verdunkelt hat." Gossip ist keine Erfindung des Internets.

"Könnte ich doch nur dieses merkwürdige Weib hören und sehen", notiert Clara. "Jede ihrer Bewegungen soll studiert sein, nach Beendigung eines Stückes bleibt sie auf dem Orchester, spricht mit den Musikern, verneigt sich immer wieder von Neuem, ganz kindlich als wüßte sie gar nicht wie ihr dieser Beifall gebühre, und setzt sich dann an's Clavier und spielt noch eine Piece. Die halbe Kunst besteht doch wirklich in jetziger Zeit in Coquetterie; jetzt weiß ich auch recht wohl, warum der Vater immer so unglücklich war, daß ich nicht coquett sey." Clara versteht die Bedeutung von Marketing, und findet bald schon eine geeignete Strategie für sich. Zunächst tröstet sie sich damit, dass sie zumindest Schumann begeistern kann, der im Tagebuch dauerpräsent ist und mit den leidenschaftlichsten Liebesschwüren bedacht wird.

Dies umso nachdrücklicher, je mehr Vater Wieck opponiert. Einzig in materiellen Dingen sind die beiden noch einig. Die Sorge, Schumann könne nicht genug verdienen oder überhaupt als Komponist scheitern, treibt Clara um. Gleichzeitig versucht sie, sich schon einmal auf eine solche Situation einzustellen und redet sich ein, dass es letztlich doch um immaterielle Werte gehe. Nicht nur die Koketterie der wohlhabenden Damen der Gesellschaft stößt sie nun ab, sie erhebt das vermeintliche einfache Leben auf einmal zum Ideal. Dabei scheint sich auf der Grundlage traditioneller Urteile und Vorurteile doch ein festes Klischee herauszubilden, das französische von deutschen Sitten klar unterscheidet, die in der Nationaleuphorie und -ideologie des 19. Jahrhunderts ja schnell zu national gebundenen Charaktereigenschaften stilisiert wurden. Das einfache aufrechte deutsche Mädel steht nun klar gegen die durchtriebene kokette Pariserin, die sich die Kunstlorbeeren mit unlauteren Mitteln erschleicht. Claras Ambitionen gehen aber weiter. Sie will nicht nur die technischen Voraussetzungen für Kunst perfekt beherrschen. Der unbedingte Wille, wahrer Kunst zu dienen und nicht oberflächlicher Unterhaltung, ist unübersehbar.

"Ich habe viel von meiner Unbefangenheit beim öffentlich Spielen verloren"

Den Vater rügt sie, weil er ihren kleinen Bruder von einem Klavierstimmer auf der Violine unterrichten lässt: "Müssen nicht seine Sitten und Gebräuche roh bleiben? Was ist ein großer Künstler jetzt, ohne jede Bildung? es macht mich traurig, daß ich meinen Bruder nur immer in niederer Gesellschaft sehe, der doch gewiß mit Fähigkeiten begabt ist! ... er müsste wissenschaftlichen Unterricht nehmen, dürfte nicht mehr im Orchester, und in den Gärten, Tanzböden pp. Spielen, er müßte überhaupt ein ganz anderer Mensch werden." Sie sieht sehr klar, dass der Vater ihr diese Bedingungen verschaffte, während er die Brüder außer Haus gab, um seine ganze Kraft und pädagogische Anstrengung ganz auf sie zu konzentrieren.

Aber sie sieht noch mehr: Dass es auch um eine grundsätzliche Kunstauffassung geht, um nicht weniger als eine philosophisch begründete Ästhetik, die sie allerdings zur Frage der Persönlichkeit, vielleicht mehr noch eines angeborenen Charakters, macht: "Ach wär' doch mein Vater ein anderer. Er weiß noch gar nicht welch' höhere Bedeutung die Kunst hat, wie heilig sie ist - er treibt sie noch wie ein Handwerk." Dabei stellt sie nicht Handwerk gegen Kunst. Das Handwerk muss perfekt sein, da kennt sie auch gegen sich selbst keine Gnade, aber Technik allein ist noch lange keine Kunst, noch nicht einmal die gelungene Aufführung einer Komposition. Vielleicht ist diese etwas voreilige Haltung aber auch einer eher menschlichen Tatsache geschuldet, denn Schumann hatte "sehr schön über die Pleyel geschrieben. Alles was ich über sie lese, ist mir immer deutlicherer Beweis daß sie über mich zu stellen (sic), und dann kann nun freilich von meiner Seite eine totale Niedergeschlagenheit nicht fehlen."

In aller Regel aber fühlt sie sich durch Schumann ermutigt und aufgemuntert, umso mehr, als das Verhältnis zum Vater schwierig bleibt. Einerseits weiß sie, dass sie ihm eine frühe und große Karriere zu verdanken hat, dass er sie auch zur Selbständigkeit anhält. Andererseits zeigt er in seiner Eifersucht auf Schumann eine so unerwartet tiefe Bösartigkeit, dass sie am liebsten mit ihm brechen würde. Wieder ist es Robert, der sie aufbaut und ihr auch die fachliche Bestätigung gibt, von der sie so sehr abhängt. Fehlt sie, gerät sie als Künstlerin ins Wanken, wie bei einem Konzert in Wien: "Ich habe viel von meiner Unbefangenheit beim öffentlich Spielen verloren, und das ist schlimm, läßt sich auch nicht wiedergeben."

So klar wie an diesem 23. Mai 1840 hat das Clara Wieck bis dahin nicht und nie wieder formuliert. Die Übertreibungen, mit denen sie vielleicht noch Widerspruch provozieren will, sind minimal, die Koketterie mit Selbstkritik nun obsolet. Fortan führen Clara und Robert ein gemeinsames Tagebuch. "Es soll von nun an unter uns ein Herz und eine Seele sein, und so schließe ich denn dies Buch, nicht ohne Wehmuth!" Die Trauer ist berechtigt. Die folgenden Tagebücher - 40 Bände - hat Tochter Marie nach Auswertung durch Berthold Litzmann vernichtet.

Clara Schumann: Jugendtagebücher 1827-1840: Nach den Handschriften. Hrsg. von Gerd Nauhaus und Nancy B. Reich. Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2019. 702 Seiten, 48 Euro.

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