Geomarketing:Datenbank statt Bauchgefühl

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Bei der Suche nach Standorten für neue Läden holen Händler immer mehr Informationen ein - von Pendlerströmen bis zur bevorzugten Sonnencreme.

Von Stefan Weber

Früher benötigten Expansionsplaner im Einzelhandel vor allem zwei Dinge, um gute Standorte zu identifizieren: Erfahrung und ein zuverlässiges Bauchgefühl. Jahrelange Praxis schärfte den Blick für aussichtsreiche Lagen, mit der Zeit entwickelte sich ein recht sicheres Gespür dafür, wo es sich lohnt, eine neue Filiale zu eröffnen. "Diese Zeiten sind vorbei. Heute suchen Handelsunterneh men nach objektiven Kriterien für oder gegen einen Standort", betont Rolf Küppers, Geschäftsführer der Microm Mikromarketing-Systeme und Consult in Neuss. Das 1993 gegründete Unternehmen gilt als Pionier im Geomarketing, einer vergleichsweise jungen Disziplin, die die verschiedensten Merkmale von Menschen - Alter, Beruf, Familiensituation, Werte- und Konsumvorstellungen - in einen räumlichen Bezug bringt.

Ob Haus, Straßenabschnitt, Stadtteile oder individuelle Kundengebiete - moderne Analysen basieren heute auf verschiedenen Geoebenen. Das schafft eine Transparenz, die Marketingfachleute fasziniert, anderen Menschen aber bisweilen ein wenig Angst einflößt. Wo wohnen die Nutzer einer bestimmten Sonnencreme, die ihren Sommerurlaub am liebsten auf Mallorca verbringen? Welche Lebensstile und Konsumpräferenzen haben die Menschen, die sich in einem neu zu entwickelnden Wohngebiet in Mönchengladbach ansiedeln werden? Das sind Fragen, die Küppers und seine 38 Mitarbeiter beantworten wollen.

Für Handelsunternehmen liefert Geomarketing wichtige Entscheidungshilfen. Angenommen, ein Filialbäcker will in Oldenburg einen neuen Laden eröffnen, und zwar am Kasinoplatz 3. Seine Anfrage würde lauten: Welchen Umsatz könnte ich dort erwirtschaften? Aus der Vogelperspektive von Google Earth hat die anvisierte Immobilie ihre Reize: Sie ist zentral gelegen, es gibt ein wenig Grün vor der Haustür, bis zum attraktiven, weitläufigen Schlosspark sind es nur ein paar Schritte. Aber für eine fundierte Standortentscheidung sind das deutlich zu wenige Informationen. Händler wollen zum Beispiel wissen, wie viele Kunden sie an diesem Standort erreichen und wie hoch die Kaufkraft im Einzugsgebiet ist.

Ein Blick in die aus vielen verschiedenen Quellen (darunter Telekom, Post, Bundesagentur für Arbeit, statistische Ämter, Google oder auch Zeitschriftenverlage) angereicherte und aufbereitete Microm-Datenbank zeigt: Auf der Ebene der Gemeinde, das heißt im Postleitzahlbereich, weist der Standort Kasinoplatz 3 eine durchschnittliche Kaufkraft auf. Familien sind deutlich in der Minderzahl, zwei Drittel der dort lebenden Menschen sind jünger als 55 Jahre, das Risiko für Zahlungsausfälle ist höher als im bundesdeutschen Durchschnitt.

Alles wichtige Angaben, aber das Unternehmen stellt den Fokus noch ein wenig schärfer, zum Beispiel mit einer besonders feinen Unterteilung der üblicherweise fünfstelligen Postleitzahlen (PLZ) zur sogenannten PLZ8. Bundesweit gibt es 82 978 solcher achtstelliger PLZ-Gebiete mit jeweils durchschnittlich 500 Haushalten. Im konkreten Fall trägt das Gebiet in Oldenburg die Nummer 26122025, und in diesem Bereich verfügen sehr viele Haushalte über ein Nettoeinkommen von mehr als 5000 Euro. Die Arbeitslosigkeit liegt unter dem Durchschnitt, Singles und junge Paare sind deutlich in der Überzahl.

Um die Qualität eines Standorts noch besser abzuschätzen, ist es hilfreich zu wissen, welchen Lebensstil die Menschen im Umfeld pflegen und an welchen Werten sie sich orientieren. Aufschluss darüber geben die Milieus, die Sozialwissenschaftler des Heidelberger Sinus-Instituts seit Jahrzehnten ermitteln und die Analysten mit raumbezogenen Daten zu "Sinus-Geo-Milieus" verknüpfen. Diese fassen Menschen nach ihren Lebenswelten in "Gruppen Gleichgesinnter" zusammen, etwa zu Angehörigen des hedonistischen, traditionellen oder liberal-intellektuellen Milieus. Dahinter steht die Überlegung: Gleich und gleich gesellt sich gern, Menschen mit ähnlichem Lebensstil, Bildungsstand und Alter finden sich. Akademiker wohnen im Univiertel, Künstler auf dem Kiez, vermögende Familien im Speckgürtel der Großstadt, Arbeiter neben Arbeitern.

Im Mikromarkt 26122025 Oldenburg, Kasinoplatz 3, dominiert das adaptiv-pragmatische Milieu. Es bezeichnet "die moderne Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül: zielstrebig und kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert mit einem starken Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit". Das Wohnumfeld ist geprägt durch "multikulturelle Innenstadtbereiche". Das heißt in Stichworten: junge bis mittelalte Bewohner von Häusern mit alter, schlecht erhaltener Bausubstanz; Studentenviertel mit WGs in Straßen mit Mischnutzung, mittlere berufliche Qualifikation, hoher Ausländeranteil, schlechte Zahlungsmoral.

Küppers kann Auftraggebern aus dem Handel inzwischen auch sehr genau sagen, woher ihre Kunden kommen. Früher ermittelte man solche Daten, indem man Kunden an der Kasse nach der Postleitzahl ihres Wohnorts fragte. Heute wertet Microm zusammen mit Partnerunternehmen die Bewegungen von Smartphones aus - vorausgesetzt, die Eigentümer der Geräte haben zugestimmt, dass solche Frequenzdaten für Marketingzwecke genutzt werden. Das scheint keine große Hürde zu sein. Küppers meint dazu: "Viele Menschen in Deutschland gehen sehr freigiebig mit ihren Daten um, insbesondere auf Social-Media-Plattformen oder bei der Nutzung neuer technischer Features wie Sprachassistenten."

Mit diesen Informationen lässt sich analysieren, wo sich die anvisierte Zielgruppe in der Stadt bewegt. Für eine Bäckerei sind dabei besonders der morgendliche Weg zur Arbeit und Wege am Nachmittag interessant, denn dann wird üblicherweise besonders viel Kaffee konsumiert. Entsprechend kommen Standorte in Betracht, die von der Zielgruppe zu den relevanten Zeiten häufig frequentiert werden. Auch kann die Bäckereikette die Daten bei der Planung ihrer Öffnungszeiten und Personalkapazitäten einsetzen.

Solche Informationen und daraus erstellte Umsatzprognosen ersetzen zwar nicht die Erfahrung eines langjährigen Expansionsmanagers im Handel. Aber die Kombination von subjektiven und objektiven Faktoren reduziert das Risiko, eine falsche Standortentscheidung zu treffen.

© SZ vom 03.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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