Biometrie in Hilfsprogrammen:Ohne Gesichts-Scan kein Essen

Daumen drauf, Augen auf - Biometrische Sicherung im Alltag

Biometrische Scans sollen in Hilfsprogrammen Standard werden (Symbolbild).

(Foto: Henrik Josef Boerger/dpa-tmn)

Von Jemen bis Nigeria werden Flüchtlinge und Hungernde biometrisch erfasst. Kritiker sagen: Die Reichen der Welt benutzen die Armen als Versuchskaninchen.

Von Adrian Lobe

Im Bürgerkriegsland Jemen spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. 20 Millionen Menschen leiden Hunger, es fehlt an sauberem Trinkwasser, Krankheiten wie Cholera breiten sich aus. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) hat ein umfassendes Hilfsprogramm für unterernährte Kinder, Schwangere und stillende Mütter aufgelegt. Im Juni wurde diese Hilfe allerdings teilweise ausgesetzt, weil Nahrungsmittel immer wieder von Huthi-Rebellen abgezweigt und den Bedürftigsten vorenthalten werden.

Immer wieder werden in verwüsteten Gegenden Hilfsprogramme missbraucht, und die Stärksten bereichern sich. Das WFP argumentiert, nur mit biometrischen Prüfungen könnten die Hilfsgüter die wirklich Bedürftigen sicher erreichen. Sonst fließe das Geld an Kriegsparteien, das könne man als humanitärer Helfer nicht zulassen. Doch das Misstrauen gegen die internationale Organisation ist groß, und einmal mehr stößt der Einsatz biometrischer Systeme auf Widerstand.

In Jemen hatte das Welternährungsprogramm mit den Huthi-Rebellen ein Abkommen über ein biometrisches Authentifizierungssystem geschlossen. Die Bedürftigen sollten sich mit Fingerabdrücken sowie Iris- und Gesichtsscans in einer Datenbank registrieren, um Zugang zu Hilfsgütern zu erhalten. Aber noch bevor das System tatsächlich zum Einsatz kam, kam es zum Streit über die Verwaltung der Datenbank. Die Rebellen bestehen auf die Kontrolle über die Daten. Die nationale Hilfsbehörde Namcha geißelte die Datensammlung gar als "Geheimdienstoperation" - die die nationale Sicherheit gefährde.

Die Rebellen befürchten, dass die sensiblen Daten in den Händen ihrer Feinde landen: der Saudis, die das Land bombardieren. Und sie fürchten, dass einzelne Bürger ins Visier der saudischen Militärkoalition geraten könnten. Deshalb fordern sie, eine lokale Behörde müsse die Daten verwalten. Die UN verlangen ihrerseits Zugang zu den Daten und machten die biometrische Registratur zur Bedingung von Hilfslieferungen. Nur so könnten Helfer die Bedürftigen in dem zerrütteten Land identifizieren.

Privatsphäre wird zu einer Frage des Geldbeutels

Nun könnte man angesichts des Leids der Menschen in Jemen einen solchen Streit als sekundär abtun, nach dem Motto: Wer braucht noch Privatsphäre, wenn er nicht einmal etwas zu essen hat? Bei Bedrohung für Leib und Leben muss das Recht auf informationelle Selbstbestimmung doch hintanstehen.

Doch so eine rein auf den Nutzen fokussierte Betrachtungsweise würde bedeuten, armen Menschen das Recht auf Datensouveränität abzusprechen - und damit einer Entwicklung Vorschub leistet, bei der Privatsphäre zu einer Frage des Geldbeutels wird.

Der Bürgerrechtsaktivist Mark Latonero von der NGO Data & Society bezeichnete die konditionierten Hilfen in einem Gastbeitrag für die New York Times als "Überwachungs-Humanitarismus": Die Datensammelsysteme würden die Schwächsten noch verwundbarer machen. Wenn die Daten eines Individuums oder einer Gruppe gehackt würden, könnte dies zu Vergeltungsmaßnahmen führen. Trotz der hehren Absicht basiere die Entscheidung, biometrische Identifizierungssysteme zu installieren, auf einer Reihe von Fehleinschätzungen, zum Beispiel der, dass Technologie politische Probleme "lösen" könne. Latonero befürchtet, dass eine "digitale Unterklasse" entsteht. Die sei dann gezwungen, ihre persönlichsten Daten im Austausch gegen Grundbedürfnisse wie Nahrungsmittel zu tauschen - ohne Würde, ohne Wahl. Latonero warnt, dass ausgerechnet Hilfsorganisationen zu "den größten Datenbrokern in Krisenregionen" mutieren könnten - eine Rolle, die sonst vor allem kommerziellen Akteuren zugeschrieben wird.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat 2013 in Malawi ein "biometrisches Identitätsmanagement-System" (Biometric Identity Management System) gestartet. Mittlerweile ist es auf 43 Länder ausgedehnt, in seiner Datenbank sind Fingerabdrücke, Gesichts- und Irisscans von 4,4 Millionen Erwachsenen und Kindern über fünf Jahren gespeichert. Bis 2020 soll das System in 75 Ländern verfügbar sein und eine der größten multinationalen biometrischen Datenbanken sein. Flüchtlinge und Staatenlose werden mit einer Technik registriert, mit der einst Kriminelle und Kranke erfasst werden. Ende des 19. Jahrhunderts ließ der französische Kriminalist Alphonse Bertillon Jochbeinbreite, Armspannbreite und Ohrenlänge von Verdächtigen vermessen. Diese anthropometrischen Methoden kehren nun in neuem Gewand zurück. Was die Frage aufwirft: Zementiert die Technologie den sozialen Ausschluss noch weiter?

Flüchtlingslager als "Versuchslabore für biometrische Datenerfassung"

In einem internen Prüfbericht des UNHCR wurden zudem Zweifel an der Datensicherheit geäußert: Zwar würden die biometrischen Daten auf lokalen verschlüsselten Servern gespeichert und gelöscht, sobald sie mit dem Zentralserver synchronisiert würden. Trotzdem bestünden Risiken des Datendiebstahls. In mehreren Fällen, unter anderem in Thailand, seien die Serverräume einige Zeit unbeaufsichtigt und nicht abgeschlossen gewesen.

Die Journalistin und Medientheoretikerin Ariana Dongus argumentiert, die Flüchtlingscamps des UNHCR seien "Versuchslabore für biometrische Datenerfassung": Neue Technologien würden im globalen Süden getestet, bis sie in der westlichen Welt als sicher und damit verkäuflich gelten. Die neomarxistische These: Der Norden liefert die Technik, den Menschen im unterentwickelten Süden bleibt nichts anderes übrig, als diese zu nutzen. Die Abhängigkeit geht weiter.

Aus den biometrischen Identifikationssystemen ist längst ein großes Geschäft geworden. Die britische Firma Iris Guard hat in Kooperation mit dem UNHCR in einem Supermarkt im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari ein Blockchain-basiertes Bezahlsystem eingeführt. Der Kunde authentifiziert sich per Augenscan. Statt ins Portemonnaie zu greifen schaut er einfach in schwarzes Gerät mit zwei kleinen Scheinwerfern.

Iris Guard ist schon länger im Geschäft. 2001 hat das Unternehmen die Vereinigten Arabischen Emirate beim Aufbau einer biometrischen Einwanderungsdatenbank unterstützt. Ziel war, illegale Einwanderung zu stoppen. Wanderarbeiter aus Indien oder Pakistan werden seitdem per Iris-Scan bei der Einreise registriert. In Südafrika stellt die Sozialbehörde SASSA seit 2012 in Kooperation mit dem Kreditkartenanbieter Mastercard eine biometrische Ausweiskarte aus. Der Berechtigungsausweis identifiziert rechtmäßige Sozialhilfeempfänger anhand von Fingerabrücken oder der Stimme.

Auch in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, hat Mastercard 120 Millionen "gebrandete" ID-Karten ausgestellt, die sowohl als Kreditkarte als auch als Reisepass fungieren. Im postnationalen Staat weist man sich mit dem Logo eines Kreditkartenunternehmens und seinen Körpermerkmalen aus.

In Indien, wo die britische Kolonialverwaltung Mitte des 19. Jahrhunderts Fingerabdrücke als Kontroll- und Identifikationsmittel der "Einheimischen" einführte, hat die Regierung mit finanzieller Unterstützung der Bill and Melinda Gates Foundation die biometrische Datenbank Aadhaar aufgebaut, wo sich Bürger per Fingerabdruck und Iris-Scan für Sozialleistungen wie Essensrationen oder Flüssiggas registrieren müssen. Ironie der Geschichte: Im postkolonialen Indien werden die Menschen also ähnlichen Techniken vermessen, die bereits zur Kolonialzeit zum Einsatz kamen. Obwohl das System gravierende Sicherheitslücken aufweist - es kam bereits zu mehreren Identitätsdiebstählen - und datenschutzrechtlich umstritten ist, wird es von Bill Gates in den höchsten Tönen gelobt.

Der amerikanische Medienwissenschaftler Jonathan Beller stellt in seinem Buch "The Message is Murder: Substrates of Computational Capital" die These auf, dass mit den computergestützten Registraturen eine koloniale Praxis aktualisiert werde. "Wie Metriken, die bei der Konstruktion von Sklavenschiffen, den Geschäftsbüchern der Britischen Ostindien-Kompanie, dem Plantagenmanagement und den Monopolkartellen genutzt wurden, sind die (Bio-)Metriken der Datenüberwachung die modernen Metriken der Bewertung." Biometrie-Systeme erlaubt es Unternehmen, nicht nur biopolitisches Identitäts-Management zu installieren, sondern auch Kapital abzuschöpfen.

Auf dem Bildschirm des Geldautomaten von Iris Guard in Jordanien erscheint das Auge des Flüchtlings in einer bizarren Nahaufnahme, darunter stehen skalierbare Werte wie Sättigung, Fokus und Qualität sowie Parameter "nahe", "in Reihe", "weit weg" und "kein Subjekt". Das macht deutlich, wie der Mensch über Biometrie-Systeme zum Objekt degradiert wird. Wer blind ist oder Schwielen an den Händen hat, kann schon gar nicht mehr als Subjekt erkannt werden und folglich auch keines sein. Und wer keine Daten von sich preisgibt, wird auch nicht als Hilfsbedürftiger anerkannt. Der Konflikt zwischen dem Welternährungsprogramm und den Huthi-Rebellen zeigt, wie Macht auch über digitale Erkennungstechniken ausgeübt werden kann. Den Hungernden wird die Pistole auf die Brust gesetzt: Daten oder Leben.

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