Tech-Erfindungen:Reue für den Retweet

Tech-Erfindungen: Auch der Erfinder des Retweets bedauert sein Werk.

Auch der Erfinder des Retweets bedauert sein Werk.

(Foto: AFP)

Aufdringliche Push-Mitteilungen oder suchterzeugende Nutzeroberflächen: Immer mehr Tech-Entwickler aus dem Silicon Valley bedauern ihre Erfindungen.

Von Michael Moorstedt

Es gibt einen neuen Trend im Silicon Valley, und der hat ausnahmsweise mal nichts mit Überwachungskapitalismus oder dem daraus entstehenden obszönen Reichtum zu tun. Sondern tatsächlich, und das ist auch anderswo selten genug, mit dem Eingestehen von Irrtümern. Chris Wetherell ist der jüngste Anhänger dieses Trends. Der Mann hat vor vielen Jahren für den Kurznachrichtendienst Twitter die Retweet-Funktion entwickelt. Vergangene Woche nun trat er mit folgender Äußerung an die Presse: "Wir haben Vierjährigen eine geladene Waffe in die Hand gegeben."

Der Mensch ist wohl nicht gemacht für die Möglichkeit, nahezu unbegrenzt und mit lächerlich geringem Aufwand so gut wie jede unsinnige Meinung zu verstärken und zu multiplizieren. Für ihren Erfinder Wetherell ist diese Funktion heute nicht weniger als "der Knopf, der das Internet ruiniert hat". Das erinnert in seiner Verve schon an die Reue Robert Oppenheimers: "Now, I am become death, the destroyer of worlds", es ist jenes Sanskrit-Bonmot, an das der Leiter des Manhattan-Projekts laut Überlieferung dachte, als er am 16. Juli 1945 im Rahmen des Trinity-Tests der ersten Atomexplosion beiwohnte.

Der erste in einer langen Reihe von professionellen Entschuldigern war bereits vor einiger Zeit ein Mann namens Ethan Zuckerman. Der hatte Mitte der Neunziger die Pop-up-Werbeanzeige entwickelt, was er nun als "Ursünde des Internet" bezeichnet. Guillaume Chaslot dagegen hat früher am Empfehlungsalgorithmus von Youtube mitgearbeitet und ihn auf größtmögliche Nutzerbindung optimiert. Und weil sich extreme Positionen selbstverständlich am besten klicken, spült die Software über kurz oder lang Impfskeptizismus, Verschwörungstheorien und ganz herkömmlichen Rassismus in die Nutzerhirne. Von so gut wie jedem respektablen Netzsoziologen wird Chaslots Schöpfung deshalb als Radikalisierungsmittel angesehen.

Man lag vielleicht mal falsch, aber das ist ja jetzt vorbei

Bei Facebook könnte man inzwischen schon einen mittelgroßen Bundesliga-Kader zusammenstellen, der ausschließlich aus frühen Investoren und ehemaligen hochrangigen Managern besteht, die öffentlich Abbitte geleistet haben. Mitgründer Chris Hughes möchte den Konzern nun am liebsten ganz zerschlagenm, und Chamath Palihapitiya, der einstige Vizepräsident und zuständig für Nutzerwachstum sagte, er verspüre eine "enorme Schuld" wegen all der "kurzfristigen dopamingetriebenen Feedback-Schleifen", zu deren Entwicklung er beigetragen habe.

Viele von ihnen aber haben eher im Maschinenraum der großen sozialen Netzwerke gearbeitet. Sie haben Dinge entwickelt, die unsere Abhängigkeit von der Aufmerksamkeitsökonomie und all die bekannten üblen Nebenwirkungen für Individuum und Gesellschaft, die sie ebenso mit sich bringt, noch verstärken. Besonders suchterzeugende Details auf der Nutzeroberfläche, verführerische Software-Buttons oder aufdringliche Push-Mitteilungen, die auf den Displays der Smartphones nach permanenter Beachtung verlangen.

Ein solches Erlösungsnarrativ wirkt freilich Wunder. Tristan Harris etwa, ehemals Produktentwickler bei Google, wird mittlerweile wahlweise "das Gewissen des Silicon Valley" oder "unwahrscheinlicher Revolutionär" genannt. Harris ist inzwischen begehrte Redner auf Optimismus-Festivals wie den Ted-Talks und hat eigens das sogenannte Center for Humane Technology gegründet, mit dem er gegen das Ausnutzen von niederen Instinkten durch Hochtechnologie vorgehen will.

Der "reformierte Techie" ist mittlerweile zu einem respektablen Bewohner der Popkultur geworden. Inzwischen ist schon fast eine Industrie des nachträglichen Bedauerns entstanden, wie die Autorin Audrey Watters einmal sagte. Und die folgt einem Muster, das, wenn man mal genauer hinhört, tatsächlich eher wenig mit echten Entschuldigungen oder gar Geständnissen zu tun hat. Man lag vielleicht mal falsch, aber das ist jetzt vorbei, und alle sollten jetzt wieder Vertrauen fassen, glauben, was man zu sagen hat; und könnten bitte alle auch das eigene, gerade erschienene Buch kaufen?

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