Bildband:West-Nostalgie

Christian Werner und Joachim Bessing zu Besuch in der alten Bundesrepublik: "Bonn. Atlantis der BRD".

Von Marie Schmidt

Die Frage ist ja, warum das alles gar so lange her scheint. Die Zeit der Telefonstrippen und Eurocheques, als Bundeskanzler noch Helmut hießen. Frontalunterrichtepoche, Fassbinderdeutschland, Raucherland: "Die Welt der einstigen Bundeshauptstadt liegt unter dem Dunst von Milliarden von Zigarren, Tabakspfeifen und Zigaretten versunken", schreibt Joachim Bessing in dem Essay "Bonn. Atlantis der BRD". Der gehört zu einem kleinen Band mit Bildern, auf denen der Berliner Fotograf Christian Werner das heutige Bonn wie eine Versteinerung aus einem Land vor unserer Zeit aussehen lässt .

Bessing erzählt dazu von seiner Kindheit und Jugend in Baden-Württemberg, von Bonn also erst mal nur im übertragenen Sinn, als Geisteszustand oder Zeitkolorit. Geschichten von in den Siebzigerjahren geborenen Jungs, die frisch gewaschen den Gong der "Tagesschau" und die Ortsmarke der kleinen Hauptstadt hören, sind ja, siehe Generation Golf, ein westdeutsches Genre der Behaglichkeit. Bessing sticht daraus insofern hervor, als er die latente Gewalt miterzählt, die eine Kindheit in den Siebzigerjahren noch der Nachkriegszeit zuteilte: Lehrer, die ihren Schülern mit dem "Geigenbogen einen neuen Scheitel ziehen", und der Großvater "hatte mir ausgerechnet am ersten Weihnachtsfeiertag nach dem Klavierspiel beibringen wollen, wie man einen Polen mit dem Klappspaten erschlägt".

Später kommt der Junge zum Wehrersatzdienst nach Stuttgart, dann nach Hamburg zu Zeiten der Hamburger Schule. In den Osten, gibt er zu, sei man nie gefahren, "wir kannten dort niemanden". Bis alle nach Berlin weiterziehen, aber da sind Bonn und der Osten schon Geschichte.

Die Provinzialisierung der kleineren Republik hat etwas Mondänes

Bessings Essay enthält wertvolle Beobachtungen wie diese: "Es zeichnete sich damals schon ab, dass man auf dem Land in der Zukunft sozusagen städtisch leben müsste - mit viel Herumgefahre und anonym, und in den Städten dagegen dörflich, wie früher, also mit Märkten und persönlichem Kontakt." In dem Text und den Fotografien vom "Atlantis der BRD" steckt eine ähnliche Dialektik. Die Provinzialisierung der kleineren Republik und ihre Konservierung als versunkener Ort hat etwas Mondänes: als reiste man an einen mythischen Ort, als wäre dies ein großzügiges Land, in dem ein paar Identitätsreste vergessen herumliegen, ohne dass die gleich jemand aufräumt und sauber macht. In der neuen Hauptstadt dagegen kommen die Regierungsbauten dem Autor "überdimensioniert" vor, eigentlich eine Eigenschaft von Einkaufszentren auf dem platten Land.

Das erste Mal in Bonn ist Bessing dann "im langen, ersten Sommer der Sozialdemokratie", also 1999, dem Jahr, in dem "Tristesse Royale" erschien, der von Bessing initiierte Gesprächsband des "popkulturellen Quintetts" mit Christian Kracht und anderen. Vor ein paar Jahren hat er außerdem den Blog waahr.de mit aufgesetzt, in dem sich eine nüchtern-poetische Form des Journalismus selbst kanonisiert. Dort protokolliert er in einem Tagebuch die Gegenwart. Er gehört zu diesen Autoren der siebziger Jahrgänge, die es schaffen, aus der allgemeinen Geschäftigkeit die Stasis herauszupräparieren. Politisch gesehen sind sie Bewohner von Atlantis, werden wahrscheinlich zwischen den revolutionären 68ern und den klimabewegten Millennials zur vergessenen Generation absinken. Ihr Stil, ihre Kühle und Klarheit, die Fähigkeit, komisch ohne witzig zu sein, auch in dem "Bonn"-Essay zu bewundern, ist für immer unübertroffen.

Joachim Bessing: Bonn. Atlantis der BRD. Mit 24 Fotografien von Christian Werner. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 123 Seiten, 15 Euro.

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