Jugoslawien:Politische Kollateralschäden

Hans-Peter Kriemann erklärt, warum die rot-grüne Bundesregierung 1999 beim Nato-Krieg gegen Serbien mitmachte und wie sie sich dabei verhob. Eine entscheidende Rolle spielte damals Hans-Dietrich Genscher.

Von Franziska Augstein

Als die Nato im Frühjahr 1999 gegen Jugoslawien und seinen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević einen Luftkrieg führte, wurden Präzisionswaffen eingesetzt, deren angepriesene Zielgenauigkeit dazu führte, dass ungefähr 500 Zivilisten zu Tode kamen. Hier attackierte die Nato eine Eisenbahn, dort einen Flüchtlingstreck. Aus Versehen - vermutlich war es wirklich ein Versehen - bombardierte die Nato auch die chinesische Botschaft in Belgrad. Dem amerikanischen Militärjargon zufolge gab es also "collateral damage". Tote Kinder, Frauen und Männer waren nicht Opfer, sondern etwas Unerwünschtes nebenbei: ein Kollateralschaden. Dieser Begriff war den Deutschen damals noch nicht geläufig und schaffte es mühelos zum "Unwort des Jahres."

Der Kosovo-Krieg war nicht vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet und also völkerrechtswidrig. Ausgerechnet an diesem Krieg war erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Deutschland beteiligt. Das musste der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Der grüne Außenminister Joschka Fischer, der Madeleine Albright, der amerikanischen Außenministerin und Hardcore-Militaristin, so gut wie auf dem Schoß saß, hatte schon bewiesen, dass er vor dem Vergleich mit Auschwitz nicht zurückscheute. Nun verkündete er zum zweiten Mal binnen weniger Jahre: "Nie wieder Auschwitz." Es gelte, die Kosovo-Albaner zu schützen. Der SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping, ein Gefühlsmensch, ging dem sogenannten Hufeisen-Plan auf den Leim, demzufolge Miloševićs Regierung die Albaner einkreisen und aus dem Kosovo vertreiben wollte. Der Plan war ein manipuliertes Machwerk - so schlecht fabriziert, dass die Lokalzeitung Hamburger Abendblatt ihn als Fälschung entlarven konnte (der Plan war nicht in serbischer Orthografie abgefasst).

Das Hamburger Abendblatt vermutete seinerzeit, der Hufeisen-Plan sei den Deutschen von interessierter Seite zugespielt worden. Hans-Peter Kriemann fügt dem hinzu: Der Oberbefehlshaber der Nato für Europa hatte keinerlei Kenntnis davon. Sofern Scharping und sein Verteidigungsministerium sich beim Oberkommandierenden der Nato überhaupt erkundigt haben sollten, focht sie das nicht an. Die Bundesregierung war auf dem Kriegspfad. Weil ihre Bevölkerung das mitmachen musste, glaubten zuständige Politiker alle Gräuelgeschichten: Konzentrationslager für Albaner, aufgeschlitzte Bäuche von Schwangeren. Lügen ist einfacher, wenn man sich einbildet, die Wahrheit zu sagen.

Hans-Peter Kriemann ist Jahrgang 1977. Er ist Oberstleutnant und arbeitet beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Das verpflichtet zu Objektivität. Sein Buch über den Kosovo-Krieg ist mit packender Akkuratesse und Nüchternheit geschrieben. Die Rezensentin hat den Einsatz der Nato gegen Jugoslawiens Kernland Serbien von Anfang an für einen Fehler gehalten (FAZ vom 2. Juni 1999).

Nicht zuletzt wegen Genschers unbedachter Politik eskalierte der Konflikt

Der Zerfall der Sowjetunion erweckte in manchen Regionen nationalen oder ethnischen Furor. Jugoslawiens Präsident Milošević ersetzte seinen "Sozialismus" durch Nationalismus. Slowenien und Kroatien erklärten sich unabhängig. Ein Lebensfehler des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher war es, im Alleingang 1991 beide als Staaten anzuerkennen, gemäß dem von der UN vereinbarten Grundrecht: Jedes Volk dürfe selbst darüber bestimmen, unter wessen Herrschaft es leben wolle. Damit war, so Kriemann, "die Büchse der Pandora geöffnet".

-

Mahnmal: Das 1999 von der Nato bombardierte damalige Innenministerium steht auch heute noch mit all seinen Bombentreffern in Belgrad.

(Foto: AFP)

Genscher zeigte sich da als schlechter Schüler historischer Erfahrung. Der US-Präsident Woodrow Wilson hatte das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert, was dazu beitrug, dass der Erste Weltkrieg nach seinem offiziellen Ende 1918 noch lange nicht zu Ende war: In Osteuropa wurde weitergekämpft. Nicht zuletzt wegen Genschers unbedachter Politik geschah das Gleiche im zerfallenden Jugoslawien. Diverse Volksgruppen, die zuvor halbwegs friedlich nebeneinander gelebt hatten, besannen sich nun erst recht auf ihre völkische Zugehörigkeit.

1991 proklamierten die Kosovo-Albaner ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien - erfolglos. Sie waren damals noch zu friedfertig. Bosnische Serben, Bosniaken und bosnische Kroaten hingegen bekämpften einander blutrünstig. Erst Drohungen der Nato, durchschlagskräftige Waffen einzusetzen, führten 1995 zu einem Friedensabkommen. Seither besteht das Land Bosnien und Herzegowina aus eigentlich zwei Ländern: aus der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der serbischen Republik Srpska. Weil der Bürgerkrieg im Sinn der Unabhängigkeitsfanatiker so gut funktioniert hatte, erhoben sich nun kosovarische Albaner gegen die jugoslawische Zentralregierung.

1996 trat die albanische UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) auf den Plan und provozierte serbische Sicherheitskräfte, wo sie konnte. Ihr Ziel: Der Zusammenschluss aller Gebiete, wo Albaner leben. Die Serben ihrerseits, an Deeskalation nicht interessiert, schlugen brachial zurück, ohne zwischen Kämpfern und Zivilisten groß zu unterscheiden. Also begann ein Bürgerkrieg im Kosovo. Weil Kosovo mehrheitlich von albanischstämmigen Menschen bewohnt wird und weil Miloševićs Militär stärker war als die UÇK, flohen vor allem Albaner ins europäische Ausland. Die internationale Gemeinschaft war entsetzt.

Was von da an geschah, schildert Kriemann mit akribischer Leidenschaft. Die Nato, die EU, die UN, die Vereinigten Staaten: alle wollten den Bürgerkrieg beenden. Die Frage war nur: Wie? Die Bundesrepublik, die bis zum Sommer 1998 140 000 Flüchtlinge aufgenommen hatte, wollte mehr davon nicht haben. Der US-Präsident Clinton war in der Heimat vollauf damit beschäftigt, seine Sex-Affäre mit einer Praktikantin runterzuspielen. Laut Kriemann war es die deutsche Bundesregierung, die vorschlug, "eine glaubhafte militärische Drohkulisse" aufzubauen. Das Bundesverteidigungsministerium war dagegen. Das Pentagon hielt es auch nicht für eine gute Idee. Denn, so Kriemann: "Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, verlangte im Zweifelsfall, Drohungen auch militärische Gewalt folgen zu lassen."

Kriemann, Hans-Peter: Der Kosovokrieg 1999

Hans-Peter Kriemann: Der Kosovokrieg 1999. Reclam-Verlag, Stuttgart 2019. 160 Seiten, 14,95 Euro. E-Book: 12,99 Euro.

(Foto: Reclam)

Der amerikanischen Militärführung ging es vor allem um Glaubwürdigkeit. Russland war gegen die Bestrebungen der albanischen Kosovaren nach Unabhängigkeit, weil die Regierung keinen Präzedenzfall wollte: Wenn Kosovo unabhängig würde, könnten die Tschetschenen und andere das Gleiche verlangen. Dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder ging es darum, zu zeigen, dass die SPD auch außenpolitisch ernst zu nehmen sei. Und der Außenminister Fischer fühlte sich bei der US-Außenministerin Albright, deren Eltern wie auch die von Fischer in Osteuropa gelebt hatten, wohl recht gemütlich.

Eine humanitäre Katastrophe sollte verhindert werden. Das Gegenteil passierte

An sich wollte die Bundesregierung keinen Krieg. Da sie den nun aber angeregt hatte, kamen die Amerikaner in die Gänge. Von da an war es klar, dass die Deutschen nichts mehr zu sagen hatten. Weil Russland seine Zustimmung zu einem Krieg im UN-Sicherheitsrat nicht geben würde, dachte man in Washington: Hey, das ist eine unwichtige Gegend, da kann man einen unbedeutenden Krieg führen, und wenn das gelingt, dann ist ein Präzedenzfall geschaffen dafür, dass wir auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats Kriege anberaumen dürfen. Kriemann formuliert das so: Die US-Regierung habe sich "größeren Freiraum an außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten" erhofft.

Es gab Verhandlungen. Die erbrachten nichts. Milošević blieb uneinsichtig. Nachdem die Nato den Luftkrieg gegen Serbien schon im Detail geplant hatte, fand eine letzte und entscheidende Verhandlungsrunde statt: im französischen Rambouillet, vom 15. bis zum 19. März 1999. Bereits am 16. März, so Kriemann, galten die Verhandlungen als gescheitert. Kriemann meint, diese Konferenz sei trotzdem keine "Scheinkonferenz" gewesen. Das ist nicht plausibel. Es gab den Annex B, der nicht sogleich übermittelt wurde, dessen Inhalt Journalisten erst Tage später herauswühlten. Der Annex B besagte, Milošević müsse unterschreiben, dass die bewaffneten Einsatzkräfte der multinational bestückten KFOR (Kosovo Force) sich auch in ganz Serbien frei bewegen könnten, was darauf hinausgelaufen wäre, dass das Land seine Souveränität verloren hätte. Kriemann konzediert, dass die Serben Nationalstolz haben. Dass Milošević, mies wie er war, den Annex B nicht unterschreiben konnte, schließt er daraus nicht.

Am 24. März 1999 begannen die Luftangriffe der Nato. Deutsche Politiker hatten ihr Bestes getan, die Bevölkerung darauf einzustimmen. Auch von Babys, die Serben an Bäumen oder Hauswänden zu Tode geschlagen hätten, war die Rede. Der Krieg schien also nötig zu sein. Damals schon gab es einige wenige, die darauf aufmerksam machten, was Hans-Peter Kriemann nun in seinem ausgezeichneten Buch (ein Nebenprodukt seiner Dissertation) belegen kann: Die Nato-Mitgliedstaaten meinten, "ihr Handeln sei völkerrechtlich dadurch legitimiert, dass dieser Luftkrieg in Ermangelung eines UN-Mandats eine humanitäre Katastrophe verhindern sollte. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Hatten seit der Eskalation des Kosovokonflikts im Frühjahr 1998 bis zum Beginn der Operation Allied Force etwa 170 000 Flüchtlinge das Kosovo verlassen, sollten es bis Ende Mai 1999 weitere 850 000 werden."

War der Kosovo-Krieg wirklich nötig? Weil Genscher 1991 die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien anerkannte, fühlten andere Völkerschaften Jugoslawiens sich berechtigt, dem nachzutun. Denkbar wäre, dass Genscher seine Entscheidung im Verein mit Kanzler Helmut Kohl getroffen hat, um auszuloten, wie groß Deutschlands internationale Macht nun sei, da der Zwei+Vier-Vertrag das Land souverän gemacht hatte. Das ist bloß eine Spekulation, die kursiert. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie zutreffen sollte, haben die USA sehr schnell gezeigt, wo der Bartel den Most holt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: