Podiumsdiskussion in Dachau:Der blinde Fleck

Podiumsdiskussion in Dachau: Eine Besucherin der KZ-Gedenkstätte fotografiert das Tor mit dem zynischen Spruch "Arbeit macht frei".

Eine Besucherin der KZ-Gedenkstätte fotografiert das Tor mit dem zynischen Spruch "Arbeit macht frei".

(Foto: Toni Heigl)

Katrin Himmler und Niklas Frank erzählen in Dachau von der schwierigen Auseinandersetzung mit ihren NS-Vorfahren. Sie kritisieren den unehrlichen Umgang der Deutschen mit den Legenden des Familiengedächtnisses.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Ein Beispiel für Familiengeschichten, über die in Deutschland nach dem Krieg nie jemand sprach, ist die Geschichte des Niklas Frank. Sein Vater Hans Frank verantwortete in der NS-Zeit den Massenmord an Juden und Polen und wurde 1946 als Kriegsverbrecher erhängt. Als junger Mann trampte Niklas Frank durch die junge Bundesrepublik. Oft offenbarte er den Autofahrern, die ihn mitnahmen, wer sein Vater war. Viele spendierten dem Anhalter daraufhin begeistert ein Mittagessen. Wie Niklas Frank erklärt, konnten sich nach dem Krieg nur die alten Nazis ein Auto leisten, weil sie von ihrer Vergangenheit profitierten.

Jetzt, an diesem Abend im Max-Mannheimer-Haus erzählt Frank seine Familiengeschichte bei einer Diskussionsveranstaltung der Internationalen Jugendbegegnung. Mehr als 100 Menschen sind gekommen, darunter Holocaust-Überlebende, Nachkommen von ehemaligen Dachauhäftlingen und Referenten der KZ-Gedenkstätte. Katrin Himmler, Heinrich Himmlers Großnichte, sitzt neben Frank auf dem Podium. Die beiden Nachkommen von NS-Verbrechern haben die Taten ihrer Familie erforscht und Bücher darüber geschrieben. Anders als andere Deutsche haben sie sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte während der Nazizeit auseinander gesetzt. Vor diesem Hintergrund sagt der Moderator und Redaktionsleiter der SZ Dachau, Helmut Zeller, anfangs zu beiden Referenten, dass "das Ungeheuerliche in Sie eingedrungen" sei - ein Zitat des Philosophen Theodor W. Adorno, der in den Sechzigern über die fehlende Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik geurteilt hatte, dass eben das "Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen" sei und die "Identifikation mit dem System in Deutschland" fortbestehe.

Die Folgen vermiedener Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte

Die Veranstaltung im Max-Mannheimer-Haus legt die Folgen einer größtenteils vermiedenen Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer NS-Familiengeschichte offen. Die Verstrickung der eigenen Eltern, Groß- oder Urgroßväter während der Nazizeit bleibt in vielen Familien bis heute ein blinder Fleck. Für Zeller ist das eine Ursache für den wiedererstarkten Antisemitismus. Himmler sieht das ähnlich. Sie spricht oft in Schulen. "Die meisten Schüler wissen nichts über ihre Familiengeschichte", erzählt sie. Wenn dann würden sie sich für die Kriegstraumata ihrer Vorfahren interessieren. Daraus folgt eine Verdrehung der Vergangenheit, wie eine Studie belegt: "18 Prozent der Jugendlichen glauben, dass ihre Vorfahren im Widerstand waren." Tatsächlich begehrte nur eine kleine Minderheit gegen Hitler auf.

Gleichwohl beißt sich die Erfahrung mit der Tatsache, dass sehr viele Schulklassen die KZ-Gedenkstätte Dachau besuchen. Eine Referentin, die regelmäßig Schüler über das Gelände führt, weist daraufhin, dass das Thema an jeder Schule präsent sei. Von Frank und Himmler will sie wissen: "Was können wir noch mehr machen?" Frank antwortet, dass die Referenten sich etwa wehren müssten, dass Bilder und Filme von den Leichenbergen der früheren Konzentrationslager in den Gedenkstätten entfernt werden sollten, weil diese die Besucher überfordern würden. "Das Gift der Verheimlichung pflanzt sich fort", sagt Frank. Auch an der KZ-Gedenkstätte Dachau plant man, einen neuen Dokumentarfilm drehen zu lassen. Derzeit wird im Kino ein Streifen gezeigt, der 1969 fertiggestellt wurde und den Betrachtern schonungslos die Verbrechen der Nationalsozialisten im ehemaligen Konzentrationslager darlegt.

Podiumsdiskussion in Dachau: Das Podium: Katrin Himmler, Helmut Zeller und Niklas Frank (r.).

Das Podium: Katrin Himmler, Helmut Zeller und Niklas Frank (r.).

(Foto: Toni Heigl)

Katrin Himmler und Niklas Frank plädieren für einen offenen Umgang der Deutschen mit ihrer Familiengeschichte. Jeder müsse diese selbst erforschen, finden sie. An diesem Abend geht es aber auch um die Frage, wie mit Nachkommen von Opfern und Tätern generell umgegangen wird. Hintergrund ist, dass die Veranstaltung im Vorfeld einige Nachkommen von ehemaligen deutschen KZ-Häftlingen verärgert hatte. Diese fühlten sich in Dachau wieder einmal in den Schatten öffentlicher Aufmerksamkeit gedrängt und kritisierten den Förderverein für Internationale Jugendbegegnung, die Nachfolgegenerationen der Opfer bei der Jugendbegegnung außen vor zu lassen, auch weil Biografien von Täternachkommen auf ein größeres öffentliches Interesse stoßen würden. Der Förderverein wies das als falsch zurück.

Einig sind sich alle Podiumsteilnehmer, dass die zweite und dritte Generation der Täter in der Bundesrepublik gesellschaftlich bevorteilt wurde, während die Nachkommen der NS-Verfolgten nach dem Krieg sich gegen Ressentiments und Anfeindungen wehren mussten und sogar mit Berufsverboten zu kämpfen hatten. Auch bei diesem Thema schlug die Aufarbeitung in den Familien völlig fehl, mit Folgen. "Das Leid der Opfer wurde im Familiengedächtnis ausgeblendet", sagt Zeller. Davon zerre das völkische, rassistische Denken, das heute wiedererstarke. Er fragt: "Wie können Nachkommen von Tätern und Opfer zusammenwirken, um dieses Denken zu bekämpfen?" Frank fordert, sich in die Perspektive der Opfer reinzudenken und Zivilcourage zu zeigen.

Vielleicht funktioniert das Reindenken am besten, wenn man Geschichten erzählt. So wie die von Klaus Mai. Der 67-Jährige ist Sohn eines KZ-Häftlings. Nach der Veranstaltung erzählt er, dass man früher seiner Familie nachgerufen habe, dass man vergessen habe, sie zu vergasen. Einmal an Weihnachten habe jemand einen Kohlensack und einen Benzinkanister vor die Tür gestellt. Er ärgert sich über Frank und Himmler. Sie würden einen "ungleichen Platzvorteil" genießen und die Opferperspektive mit ihren Büchern in den Hintergrund drängen. Täter- und Opferperspektive sind seiner Meinung nach miteinander unvereinbar. Frank entgegnet, dass es Täter nie ohne die Opfer gebe. "Meine Wut kommt daher, dass die Opfer nicht wirklich berücksichtigt wurden."

Podiumsdiskussion in Dachau: Das Publikum diskutierte mit den Sprechern über den Umgang von NS-Nachfahren mit ihrer familiären Vergangenheit.

Das Publikum diskutierte mit den Sprechern über den Umgang von NS-Nachfahren mit ihrer familiären Vergangenheit.

(Foto: Toni Heigl)

Als Inge Kroll gegen Ende des Abends spricht, versagt ihr fast die Stimme. Ihr Vater war im KZ Dachau inhaftiert, weil er ein Kommunist war. Er erholte sich psychisch nie mehr. "Damit muss man als Kind erst einmal klarkommen. Als Kind will man keinen Vater haben, der so etwas erlitten hat", sagt sie. Die 69-jährige Psychologin, die damals auch in der Schule wegen ihres Vaters ausgegrenzt wurde, ist radikal ehrlich. Zu Himmler und Frank sagt sie: "Ich muss aufpassen, nicht neidisch zu werden." Sie wisse, wie schwer es ihre Eltern gehabt hätten und wie leicht dagegen die ehemaligen Nationalsozialisten. Heute gehe es darum, das Leid der Opfer anzuerkennen. "Wenn das nicht geschieht, bleibt nur Wut übrig."

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