Porträt:Die Denkmaschine

Porträt: Jens Hillje, Ko-Leiter des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, beschwört das Glück der „chosen family“.

Jens Hillje, Ko-Leiter des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, beschwört das Glück der „chosen family“.

(Foto: Esra Rotthoff/Gorki Theater Berlin)

Was macht eigentlich ein Dramaturg? Ein Beruf, den man fast nur in Deutschland kennt. Jens Hillje ist einer, ein guter. In Venedig bekam er dafür einen Goldenen Löwen.

Von Christine Dössel

Es gibt keine große Feierlichkeit, keinen Sekt und auch keinen Scheck. Das Schönste an der Preisverleihung bei der Theaterbiennale in Venedig ist der Preis selbst: ein geflügelter Goldener Löwe, hereingebracht in einer aufklappbaren roten Box wie in einem Schrein. Es ist die gleiche venezianische Trophäe, wie sie auch bei den Filmfestspielen verliehen wird, dort allerdings mit deutlich mehr Pomp und Aufmerksamkeit - wie das üppig ausgestattete Filmfestival seine sehr viel ärmere kleine Theaterschwester überhaupt in allem überstrahlt. Obwohl beide fast gleich alt sind und seit mehr als 85 Jahren unter dem Dach der großen Marke Venedig-Biennale für zeitgenössische Kunst stattfinden, allerdings jährlich.

Immerhin: Beim Finale im schmucken Teatro Goldoni kommt Biennale-Präsident Paolo Baratta persönlich vorbei, um den Ehrenpreis für ein Lebenswerk zu vergeben. Er geht an den deutschen Dramaturgen Jens Hillje, den künstlerischen Co-Leiter des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Der freut sich und hält den Löwen triumphierend hoch wie ein Sportler den Pokal. Eine für Hillje untypische Pose, ist der 51-Jährige doch ein ausgesprochen zurückhaltender, leiser, ja, scheuer Mensch. Was ihn womöglich genau dafür prädestiniert, ein guter Dramaturg zu sein.

Dass er als solcher in Venedig ausgezeichnet wird, ist doppelt ungewöhnlich. Zum einen stehen Dramaturgen schon qua Jobbeschreibung selten im Vordergrund - auch Hilljes Name fällt eigentlich immer nur im Verbund mit dem von Gorki-Intendantin Shermin Langhoff. Zum anderen wird Hillje von den Italienern für eine Tätigkeit geehrt, die es im italienischen Theater gar nicht als eigenständigen Beruf gibt.

Dramaturgen gibt es im deutschen Theater seit Lessings Zeiten

Gerade deshalb hat sich Antonio Latella, der künstlerische Direktor der Theaterbiennale, von Beruf Regisseur, für Hillje als Preisträger entschieden. Um ein Zeichen zu setzen und ein Signal zu senden an die Politik: "Weil ich es wichtig finde, dass man in unserem Land versteht, was ein Dramaturg ist, macht und für das Theater heute bedeutet." In Italien, wo die Theater keine festen Ensembles haben und die Inszenierungen untereinander austauschen, gebe es keine dramaturgische Idee für ein Haus, keine Verständigung über das Publikum und auch keinen Dialog mit diesem. "Dramaturg", das sei in Italien gleichbedeutend mit dem Autor eines Stücks.

Sein ganzes Festivalprogramm hat Latella, seit 2017 im Amt, in diesem Jahr unter das Motto "Dramaturgien" gestellt, nachdem es im Vorjahr um das Verhältnis "Schauspieler / Performer" ging und in seinem ersten Biennale-Jahr um Regie (wobei er da nur Regisseurinnen eingeladen hatte - 100 Prozent Frauenquote). "Dramaturgien", schon klar, meint alle möglichen Arten des modernen Erzählens, nicht nur klassische Textarbeit. Als Pate dafür steht der 1995 verstorbene, im italienischen Theater hoch verehrte DDR-Dramatiker Heiner Müller, der auf den Biennale-Flyern wie ein Gespenst aus einem Gully lugt (das berühmte Foto von Joseph Gallus Rittenberg). Ein Zerstörer von Narrativen. Für Latella markiert er einen "Point of no return". Auch Müller war mal Dramaturg.

Heiner Müller lugt immer noch auf den Flyern wie ein Gespenst aus einem Gully

Keine Diskussion in Venedig, in der Jens Hillje nicht auf den grimmen Geschichtspessimisten, seinen Heldenpoeten aus Jugendtagen, zu sprechen käme. Als Hillje in den Neunzigerjahren in Berlin als Dramaturg begann, an der Seite von Thomas Ostermeier an der damaligen Baracke des Deutschen Theaters, da war Heiner Müller im Theater "der Papst". Eine Dramaturgie nach Müller musste überhaupt erst mal gefunden werden, sagt Hillje.

Sie fanden sie in England, in den provokativen, dreckig-realistischen Stücken eines Mark Ravenhill ("Shoppen & Ficken") und einer gewissen Sarah Kane ("Gier"), der rotzigen Dramatik eines "Cool Britannia", für die der britische Kritiker Aleks Sierz den Begriff "In-Yer-Face"-Theater prägte: mitten in die Fresse. Die Baracke wurde damit binnen kürzester Zeit berühmt und Ostermeier mit seinem Adjutanten Hillje 1999 an die Berliner Schaubühne berufen. Gemeinsam mit Sasha Waltz bauten sie in den ersten Jahren ein internationales Schauspiel- und Tanzensemble auf, riefen das "F.I.N.D."-Festival für internationale Dramatik ins Leben, schufen die well made Schaubühnenästhetik. Hillje ging nach zehn Jahren. Ostermeier ist noch immer dort.

"Dramaturgien" - Latellas Biennale-Motto meint auch eine solche theatrale Aufbau-, Findungs- und Profilarbeit, sprich: die Arbeit in den (deutschen) Dramaturgien. Dafür ist Jens Hillje in Venedig der Vorzeigemann. Hillje bringe alles mit, was den idealen Dramaturgen im 21. Jahrhundert ausmache, findet Latella. Nicht nur, weil er alle wichtigen Spielarten und Betätigungsfelder im Theater aus eigener Praxis kenne - ob nun als Schauspieler, Regisseur, Co-Autor, Stückbetreuer, freier Dramaturg, Festivalkurator oder künstlerischer Leiter. Sondern vor allem, "weil er das Theater für ein neues Publikum geöffnet hat". Das ist für Latella das wichtigste. Da der Italiener in Berlin lebt und selber im deutschsprachigen Theater inszeniert, hat er Hilljes Arbeit über die Jahre verfolgt. Ein guter Dramaturg, sagt Latella, sei "wie ein 360-Grad-Künstler".

360 Grad, das heißt: Alles im Blick haben, aber selber nicht im Zentrum stehen. Claus Peymanns treuer Wegbegleiter Hermann Beil, einer der wenigen Berühmten der Zunft, fasste es einmal so zusammen: Der Dramaturg, als "Denkmaschine" am Theater engagiert, pendle täglich zwischen "Denkfabrik" und "Mädchen für alles und nichts" hin und her. Wer diesen Spagat aushalte, der sei Dramaturg.

Aber was konkret tut so ein Dramaturg? Jens Hillje, der seinen Beruf oft erklären muss, weil es ihn außerhalb des deutschsprachigen Theaters kaum gibt, nennt in Venedig drei Hauptaufgaben: Programmierung, also Spielplan gestalten, Stücke auswählen, viel lesen, viel sehen, Talente scouten, betreuen, kuratieren. Produktion: den Inszenierungsprozess begleiten und dabei Ansprechpartner auch für die Schauspieler sein. Und Kommunikation, also die Betreuung von Programmheften, Publikumsgesprächen, die Vermittlung zwischen Theater und Öffentlichkeit. Es seien viele Aufgaben hinzugekommen, zum Beispiel eine viel stärkere Produktionsverantwortung.

Dass der Dramaturg am Produktionsprozess beteiligt ist, kam überhaupt erst mit Bertolt Brecht und dessen gesellschaftsreflexiver Arbeit am Berliner Ensemble in den Fünfzigerjahren auf. Zwar gibt es den Dramaturgen im deutschen Theater schon seit Lessings Zeiten - Gotthold Ephraim Lessing hat den Beruf beim Schreiben seiner "Hamburgischen Dramaturgie" zwischen 1767 und 1769 nicht nur erfunden, sondern am Hamburger Nationaltheater auch selber ausgeübt -, aber erst mit der Herausbildung des Regietheaters im 20. Jahrhundert bekam das Berufsbild dieses literarisch-künstlerischen Aufführungsbegleiters eine Kontur.

Es sind die besonderen Strukturen des deutschen Ensemble- und Repertoiretheaters, die diesen Beruf begünstigen und, ja: erfordern. Die Dramaturgieabteilungen wurden in den letzten Jahren eher größer, ihre Aufgaben in einer vielfältigen Stadtgesellschaft mehr. Man sollte sich die in der Dramaturgie Beschäftigten - viele sind Frauen - nicht als graue Stubenmäuse vorstellen, die immer nur lesen statt leben, so das klassische Klischee. Ohne Vernetzung, Internationalität, diskursive Formate geht da heute gar nichts mehr.

Als 15-Jähriger spielte er Millers "Hexenjagd" in einem niederbayerischen Wirtshaus

Jens Hillje sieht den Dramaturgen auch als "Gatekeeper" und diesen in der Pflicht, ein Auge für das Eigensinnige, Besondere, Andere zu haben. Auch für "die anderen". Ein diverses, humanistisches, universales Theater ist für ihn unabdingbar, das machte er in Venedig auch in seiner Dankesrede klar. Hillje hat in dieser Hinsicht im deutschen Stadttheater einige Pionierarbeit geleistet. Schon das Stück "Verrücktes Blut", das er 2010 mit Nurkan Erpulat für das Ballhaus Naunynstraße schrieb, eröffnete dem Theater eine neue Sichtweise und ein neues Publikum. Eine Lehrerin bläut darin ihren migrantischen Problemkids Schiller mit vorgehaltener Waffe ein. Ein Knaller.

Am Gorki-Theater, wo Hillje seit der Spielzeit 2013/14 Shermin Langhoffs Sparringspartner ist, sind Diversität und Interkulturalität ohnehin Programm. Fast alle im Ensemble haben einen Migrationshintergrund, die Stücke einen politisch-gesellschaftlichen Bezug. Hillje arbeitet mit Yael Ronen, Falk Richter, Sibylle Berg. Es gibt auch ein Exil-Ensemble, das geflüchtete Schauspieler versammelt. Heiner Müllers postdramatische "Hamletmaschine", die Sebastian Nübling 2018 mit den Exilanten erarbeitet hat, war in Venedig als Gastspiel zu sehen, eine grellböse, kriegsalbtraumhafte Horrorclown-Nummer.

Hillje, Jahrgang 1968, weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, fremd zu sein. Die ersten Jahre seines Lebens wuchs er in Italien auf, als "Auslandsdeutscher" in Mailand. Einzelkind. Die Eltern waren Flüchtlinge aus der DDR, arbeiteten bei Carl Zeiss Italien. Es war die umgekehrte Gastarbeitersituation. 1974 zogen sie zurück nach Deutschland, erst in den Münchner Norden, dann in die Nähe von Landshut.

Hillje, der optisch sofort als Italiener durchgehen könnte, wurde als Jugendlicher somit in Niederbayern sozialisiert, auch wenn man ihm das nicht anhört. Er ging auf dasselbe Gymnasium wie Thomas Ostermeier und erfuhr seine Theaterprägung im Wirtshaus, wo er selber auftrat und schon im Alter von 15 Arthur Millers "Hexenjagd" mit dem niederbayerischen Brauch des "Haberfeldtreibens" kombinierte. Martin Sperr, Herbert Achternbusch, Josef Bierbichler waren Helden. Hillje lernte den bayerischen Anarcho-Geist, diese Art von Widerständigkeit. Lernte aber auch, was es bedeutet, schwul zu sein in der CSU-Provinz. Sein Coming-out hatte er mit 19. Die Angst, ausgeschlossen zu werden, gehörte immer dazu.

Studiert hat er erst in Italien, in Perugia, danach am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Hildesheim. Und dann kamen auch schon die Neunzigerjahre in Berlin, "diese tolle Zeit voller Umbrüche". Dramaturg zu werden, war learning by doing. Am Deutschen Theater war der große alte Dieter Sturm Hilljes Mentor. Studiengänge für Dramaturgie, wie heute in München oder Leipzig, gab es noch nicht.

In Master Classes und Workshops unterrichtet Hillje diesen seltsamen Beruf jetzt selber. Gibt Erfahrungen weiter. Viele Dramaturgen übernehmen irgendwann ein Haus. Frank Baumbauer, Ulrich Khuon, Matthias Lilienthal, Joachim Lux, Oliver Reese, Sonja Anders, Andreas Beck, es gibt zahlreiche Beispiele. Auch Hillje könnte sich vorstellen, ein Theater zu leiten, er sagt "zu gründen". Allerdings würde er das nicht alleine machen wollen. Er ist jemand, der im Theater auf das Kollektiv schwört, auf das Glücksrezept der "chosen family". Er nennt es "Arbeitsglück".

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