Salzburger Festspiele:Die Sprechgranate

Valery Tscheplanowa Buhlschaft Jedermann 2019 Fotoprobe Domplatz Salzburger Festspiele ***

Leuchtende Erscheinung: Valery Tscheplanowa als Buhlschaft im Salzburger "Jedermann".

(Foto: imago images / Manfred Siebinger)

Valery Tscheplanowa gilt als unangepasst und kapriziös. Warum hat ausgerechnet diese Ausnahmeschauspielerin die Rolle der Buhlschaft im "Jedermann" übernommen? Ein Treffen in Salzburg.

Von Christine Dössel

Da steht sie schon und wartet, seelenruhig in ein Buch vertieft, in ihrem Rücken der Fels, vor ihr die Gräber. Valery Tscheplanowa hat für das Treffen in Salzburg den St.-Peters-Friedhof vorgeschlagen. Der liegt samt Stiftskirche am Fuß des Mönchsbergs, nahe dem Domplatz, der für die Schauspielerin in diesem Sommer die Bühne ist. Sie spielt die Buhlschaft in Hugo von Hofmannsthals "Jedermann", dem unverwüstlichen Hit der Salzburger Festspiele, alljährlich dargeboten als "Spiel vom Sterben des reichen Mannes", mit Glockengeläut, Todesrufen und Knittelreimen fürs Seelenheil. Und mit der Buhlschaft als berühmtester Minirolle.

Das kühl-erotische Kraftwerk aus Russland als Gspusi von Tobias Moretti - das ist keine naheliegende Besetzung. Tscheplanowa ist eine Intellektschauspielerin. Eine Frau mit besonderer Aura, trotzig-selbstbewusst, eisig-intelligent, von innen leuchtend. Vor allem ist sie eine Sprachvirtuosin. Eine Literaturversteherin, die Texte mit mathematischer Genauigkeit durchdringt und in aller Schönheit und Klarheit zu Gehör, zum Funkeln und Klingen bringt. Jedes Wort wie mundgeblasen.

Im Maschinentheater von Ulrich Rasche hat sie, auf gigantischen Laufbändern und Drehscheiben marschierend, wortmächtig brillant den Franz gegeben in Schillers "Die Räuber" (2016 am Münchner Residenztheater) und den alten König Dareios in Aischylos' Kriegstragödie "Die Perser" (letztes Jahr in Salzburg) - Rollen nach ihrem Geschmack, weil diese couragierte Reckin sehr gerne Männer spielt. Dann ist sie wieder ganz Frau, mit unverschämter Coolness, Würde und nackter Grandezza das weibliche Prinzip an sich verkörpernd, wie 2017 als Gretchen, Helena und Nana in Frank Castorfs siebenstündigem "Faust"-Trip zu seinem Abschied von der Berliner Volksbühne. Sie wurde dafür als "Schauspielerin des Jahres" gefeiert. Ihr bislang glänzendster Erfolg.

Sie schmeißt sich als Buhlschaft nicht ran, lieber gibt sie die "gute Freundin"

Die Sprechgranate Tscheplanowa für die paar Sätze im "Jedermann" - das ist geradezu eine Verschwendung. Als Buhlschaft angefragt zu werden, fand sie selber "so schräg", dass sie prompt zusagte. Die 39-Jährige ist gerade in einer Sondierungs- und Neuorientierungsphase. Sie hat seit dem Castorf-"Faust" kein Theater mehr, kein Ensemble, weiß noch nicht, wie es weitergeht. "Es ist schwer, nach Castorf wieder jemanden zu finden." Sie will sich jetzt erst mal Zeit lassen und sich umgucken, die Fühler Richtung Film ausstrecken. Da kam die Buhlschaft gerade recht.

Sie spielt die Rolle bewusst distanziert, will sich "nicht zu sehr assimilieren" mit der profanen Jetztzeit-Inszenierung von Michael Sturminger. Zwischen ihr und Moretti entsteht auch keine prickelnde Erotik, keine Leidenschaft, aber, das ist Tscheplanowa wichtig: Wärme. "Wir sind ein Flirt." Kein Paar. Ein Kritiker schrieb, sie sei wie eine "gute Freundin". Das fand sie schön. Bei ihrem ersten Szenenauftritt in einem aufregenden Glitzer-Jumpsuit muss man an große Diseusen à la Edith Piaf denken. Zumal Tscheplanowa tatsächlich singt, ein mittelalterliches Lied, "Der grimmig' Tod". Wunderschön. Später bietet sie dem Publikum die traditionell gewünschte Buhlschaftsweiblichkeit im signalroten Chiffonkleid. Aber nicht ranschmeißerisch.

Ein knöchellanges Kleid in Rot trägt sie auch beim Treffen auf dem Friedhof. Es schaut aus wie ein Buhlschafts-Alltagskostüm. Tscheplanowa flieht aus dem Getümmel oft hierher und besucht die "Katakomben" von St. Peter: die uralten Höhlen und Kavernen in der massiven Felswand, einst bewohnt von Eremiten.

In die Mönchsberg-Katakomben steigt man nicht hinunter, sondern über Treppen steil hinauf, quasi in den Fels hinein. Tscheplanowa rafft ihr Kleid und marschiert in ihren Stiefeletten voran, in der Hand einen beigen Sonnenschirm. Sie sieht bezaubernd aus mit ihrem altmodischen Fräulein-Look, ihren hochgesteckten blonden Haaren, ihrem feinen Gesicht. Wie eine Figur aus einem Tschechow-Stück. Oben führt sie in die "Kommunegruft", in die Kapellen, die Nischen im Fels. Sie saugt die Vergangenheit ein, die sie hier umfängt, berührt das kühle Gestein. "Im Grunde ist das hier mein Jedermann", sagt Tscheplanowa, "genau diese Rauheit, diese Felswand, dieser alte, schroffe Stein."

Sie hat sich, beflissene Textstreberin, die sie ist, die früheren "Jedermänner" auf Video angesehen, hat sie alle studiert, "die alten Sprecher mit den Wahnsinnsstimmen", an ihrer Seite die unterschiedlichsten Buhlschaften: Senta Berger, Veronica Ferres, Sophie Rois. Was Tscheplanowa mag, ist "die Tradition", das Urtümliche an dem Stück: "Der Dom und die Spieler, mehr war das früher nicht. Die Sprache hatte eine bildnerische Kraft. Was für eine Magie und Intimität da entstand vor 2000 Menschen!" Aber jetzt geht ja nichts mehr ohne Mikroports. Die amtierende Buhlschaft findet das schade. Sie hätte gerne den Domplatz mit ihrer Stimme gefüllt, ohne Verstärkung. Tscheplanowa pur. Dass sie das gekonnt hätte - keine Frage.

Unvergessen, wie sie 2013 in einer denkwürdigen Inszenierung ihres noch im selben Jahr gestorbenen Mentors Dimiter Gotscheff ihr Engagement am Münchner Resi antrat - in Heiner Müllers "Zement", einem sperrigen Post-Revolutionsdrama über die Aufbauphase der Sowjetunion. Tscheplanowa in einem Leinenhemd wie ein Sterntalermädchen durch den Abend führend, leuchtend zart und intensiv. Gotscheff, der schon am Deutschen Theater Berlin mit ihr 2007 Müllers "Hamletmaschine" machte, hatte die Rolle eigens für sie, die Sprachgewaltige, hinzuinszeniert: Njurka, das tote Kind. Als solches erzählte sie mit heller Todesengelstimme von Prometheus und sprach Müllers schwierigen Hydra-Monolog. Es war sensationell.

Als könne sie auf ein uraltes Wissen in sich zurückgreifen, versteht es diese oft so reif wirkende Schauspielkünstlerin, die Kostbarkeit von Texten hörbar zu machen, den Schmerz darin fühlbar, Schneisen zu bahnen in die Tiefe. Dabei scheut sie weder Innigkeit noch Pathos. Sie ist das Gegenteil einer Ich-Performerin, es geht ihr um die Dichter. Dafür ist sie überhaupt ans Theater: "Um den Dichtern nahezukommen."

Absehbar war das in ihrer Jugend nicht - obwohl ihr Lateinlehrer an der Kieler Gelehrtenschule schon mit ihr als 14-Jähriger in der Hauptrolle ein Stück einstudiert hat, auf Latein. Die Migrantin aus dem russischen Kasan, Tochter eines Mathematikers und einer Dolmetscherin, war gut im Übersetzen von Dichtern, besonders gern "entschlüsselte" sie Ovid. Und Mathe fiel ihr von allen Fächern am leichtesten. Sie war eine Topschülerin, eine Klasse hat sie übersprungen. Dabei war sie schon acht, als sie mit ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten ins fremde Deutschland kam, in ein Kaff nahe Kiel.

Sie bezeichnet sich selbst als "belesene Proletin"

Die Geschichte, wie die Mutter sie damals in den Vorgarten stellte und verkündete, sie spreche von nun an kein Wort Russisch mehr mit ihr, erzählte Tscheplanowa schon in Milo Raus Doku-Theaterabend "The Dark Ages" im Münchner Marstall. Es waren die Nachbarkinder, die ihr die ersten Worte beibrachten. "Pony", "Straße", "Zaun". Ein halbes Jahr lang verstummte das Kind komplett. Um danach akzentfreies Deutsch zu sprechen, akkurater als die meisten Muttersprachler.

Zur Integrations- und Erfolgsgeschichte der erstaunlichen Valery Tscheplanowa gehören aber auch die Ausraster und Ausreißer, ihr anarchisches Potenzial. Die Einserschülerin war 17, als sie von zu Hause abhaute. Sie trampte via Berlin nach Köln, lebte auf der Straße, verdiente Geld mit Zeichnungen und Gesang. Sie sagt, man müsse sie sich damals als androgynes Wesen mit kurz geschorenem Haar vorstellen. In größere Gefahr geraten sei sie nie. Zurück in Kiel, schmiss sie das Gymnasium kurz vor dem Abi, ging nach Russland, um ihren Vater kennenzulernen, frischte ihr Russisch auf - und fühlte sich frei. "Wie umgestülpt." Mit 20 heiratete sie den palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi, mit dem sie drei Jahre zusammenblieb. Als sie mit 22 auf die Schauspielschule kam, war sie schon ein fertiger, erfahrener, eigensinniger Mensch.

Zum Schauspiel kam sie über den Umweg der Palucca-Tanzschule in Dresden und einer Ausbildung am Puppentheater. Sie schaffte die Aufnahme an der "Ernst Busch" in Berlin, galt aber von Anfang an als Problemstudentin. Zu anspruchsvoll, zu verkopft, nicht biegsam genug. Tscheplanowa fand schon damals, "dass es auch Schauspielerinnen wie mich geben darf". Ihr sei nichts lieber, als mit einem Alexander Scheer auf der Bühne zu spielen: "Der reine Instinkt." Oder mit Marc Hosemann, dem Mephisto in Castorfs "Faust". Im Gerangel mit ihm riss sie sich auf offener Bühne das Kreuzband - und spielte weiter. Sie braucht es, dass "neben mir ein Vulkan an Kraft ist und ich meinen Kopf dazugeben kann". Tscheplanowa nennt sich eine "belesene Proletin": "Von meinen Instinkten her komme ich vom Land." Sie sucht mit aller Gewalt die Extreme, ist gerne bäuerlich wie in "Zement" oder sexy-frivol wie im "Faust" - "und dann aber im Kontrast dazu: harte Textarbeit, hohe Literatur".

Vor München war sie am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt engagiert, arbeitete mit Andreas Kriegenburg und Michael Thalheimer, beide für ihre Ansprüche "zu geschliffen". Sie war und ist nicht immer gut, sie weiß es selbst. "Wenn mir das Gesamtding nicht behagt, versteinere ich." Dann wird sie hart, nach innen wie nach außen. Sie findet, sie hat ein bisschen zu lange versucht, in diese Welt der genormten, kalkulierten Inszenierungen reinzupassen, die darauf ausgelegt sind: "Um acht Uhr fängst du an, und um 21.40 Uhr sollen die Leute weinen." Da gebe es andere, die machen das besser.

Sie gilt als schwierig, und das ist sie auch, wenn man damit meint: unangepasst, stolz, kapriziös, extremistisch, perfektionistisch, eigenständig. Sie gräbt sich in die Materie eines jeden Stückes hinein, besorgt sich Sekundärliteratur, hat eine eigene Assistentin, die für sie "forscht". Zu jedem Stück legt sie ein dickes Buch mit Gedanken und Notizen an. Sie schreibt Gedichte, zeichnet, in der Kantine sitzt sie oft allein. Sie lebt auch allein, in Berlin, ist Single, die Männer faszinierend, aber viele mit ihrer Art auch abschreckend. Erst neulich musste sie sich wieder anhören: "Boah, Wahnsinnsfrau, aber die möchte man nicht zu Hause haben."

Aus Kušejs "Faust" stieg sie aus - bei Castorf ließ sie sich das Gretchen nicht entgehen

Frank Castorf wusste ihren freien Geist zu schätzen und einzusetzen. Von ihm, den sie als ihren wahren Künstlerseelenverbündeten erkannt hat, den "tollsten aller Regisseure", gönnt sie sich gerade eine "Pause". Oder vielleicht auch er sich von ihr. Die beiden scheinen sich gefunden, aber auch nichts geschenkt zu haben. Castorf bescheinigte Tscheplanowa einmal die "geballte Kraft eines russischen T-34-Panzers" und die "zähe Disziplin einer Bolschoi-Ballerina". Er sprach aber auch von der "typischen Verlogenheit einer Russin". Darüber grübelt sie noch immer nach. Sie würde Castorf gerne überraschen. Sie glaubt, das kann sie nur im Film.

Wir sitzen inzwischen im Stiftskulinarium St. Peter, dem angeblich ältesten Restaurant Europas, in dem sie sofort als Buhlschaft erkannt und hofiert wird. Am Ende müssen wir nicht einmal bezahlen, der Ober fühlt sich durch den Besuch geehrt.

Tscheplanowa sagt, sie finde es großartig, älter zu werden. Und je älter sie werde, desto weniger sei sie bereit, im Stadttheater noch Kompromisse zu machen. "Deshalb wird's für mich nun dünne." Sie bezeichnet sich als "eine Spielerin von altem Gemüt". Der Trend hin zur bildenden Kunst im Theater sei zum Beispiel überhaupt nicht ihr Ding. Sie brauche Ensemble, Textarbeit, "jemanden, der ein Stück liest, der eingreift, vor dem ich Angst haben kann". Wenn Arbeiten sie unterfordern, kann sie aasig sein. Es gab Regisseure, mit denen sie nicht geredet oder bei denen sie sich in den Proben allen Ernstes den Augenkontakt verbeten hat. Andere wären geflogen. Aber sie hat so eine Unbedingtheit, die Respekt gebietet.

Selbst Resi-Intendant Martin Kušej hat es ihr durchgehen lassen, dass sie aus seiner "Faust"-Inszenierung ausgestiegen ist. Das muss man sich beim Chef erst mal trauen. Tscheplanowa hätte das Gretchen spielen sollen, konnte aber mit Kušejs Zugriff nichts anfangen. "Er ist so ein Instinktler, ich schätze ihn, aber er ist nun wirklich nicht mein Regisseur." Dass er sie hat gewähren und später bei Castorf hat arbeiten lassen, rechnet sie ihm hoch an. Aber sie habe auch bezahlt: "Mit Arbeit."

Tscheplanowa schaut jetzt mal, was kommt. Sie hat in Kasan, wo sie von ihrer Großmutter eine kleine Wohnung vererbt bekam, einen Schamanen aufgesucht. Der gab ihr Ameisensäure zum Schlucken und befand: "Etwas Neues fängt an. Nur Geduld, es wird sich alles fügen."

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