Christian Gentner:Plötzlich ein Berliner, wa

VfB Stuttgart v Hamburger SV - Bundesliga

Nun in Berlin: der langjährige Stuttgarter Christian Gentner (hier bei einem Bundesligaspiel im Mai 2015).

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Der langjährige Stuttgart-Kapitän Christian Gentner spielt jetzt für den Klub, der den VfB in die zweite Liga beförderte: für Union Berlin.
  • Die Geschichte Gentners ist aber auch eine Geschichte über die verlorene Romantik, von der die Fankurven immer noch träumen.

Von Christof Kneer, Berlin

Christian Gentner weiß nur aus Erzählungen, dass die Fans von Union Berlin nach dem Schlusspfiff auf den Rasen gestürmt sind. Es gibt beeindruckende Bilder von diesem Moment, allerdings muss man dazusagen, dass man darauf das Stadion ebenso wenig sieht wie den Rasen, man sieht nur Menschen, Menschen, Menschen. Wer Wimmelbilder liebt, darf sich gerne die Mühe machen, unter Tausenden das Gesicht von Christian Gentner zu suchen. Er wird es nicht finden.

Gentner, 33, war nicht mehr dort unten, als die Menschen den Rasen fluteten. Er war unmittelbar nach dem Schlusspfiff in die Kabine geflüchtet, dank einer hilfreichen Empfehlung der Stadionordner. "Die haben uns gleich rausbegleitet", sagt Christian Gentner schmunzelnd. In den Katakomben des Stadions an der Alten Försterei haben die Spieler des gerade abgestiegenen VfB Stuttgart dann gehört, wie Union Berlin draußen den Bundesligaaufstieg feierte. Sehen wollten die Stuttgarter das verständlicherweise nicht, Gentner hat sich diese Bilder bis heute nicht angeschaut. Er sagt: "Mich hat unser Abstieg bis in den Urlaub verfolgt."

Unser Abstieg, sagt Christian Gentner immer noch. Während er das sagt, sitzt er in der Loge des 1. FC Union Berlin und schaut auf ebenjenen Rasen, über den die Menschen vor acht Wochen noch hergefallen sind. Später im Gespräch wird Gentner erzählen, was sie bei Union in der neuen Saison mit ihm vorhaben, er soll im Mittelfeld die Kollegen führen und gerne auch mal einen jener Läufe wagen, die über die Jahre zu seinem Markenzeichen geworden sind. Einen dieser Läufe hat er kürzlich erst vorgeführt, im Mittelfeld ist er aufgebrochen und losgerannt, und als der Ball vom rechten Flügel in den Strafraum kam, war Gentner schon da und hat den Ball ins Tor gegrätscht.

Ein schönes Tor war das, nur gebracht hat es halt nicht so viel. Es war ein Tor für den VfB Stuttgart im Relegationshinspiel gegen Union Berlin (2:2). Im Rückspiel (0:0) sind die Stuttgarter dann abgestiegen, Wimmelbild inklusive.

Eine der kuriosesten Geschichten des Transfersommers

Gentners Geschichte ist eine der kuriosesten des Transfersommers. Vereinfacht gesagt geht sie so: Der langjährige Kapitän des VfB Stuttgart muss den VfB verlassen, weil er nicht mehr gut genug ist für den Zweitligisten. Hierauf wechselt er zu einem Erstligisten, der ihn für gut genug hält, um dort eine maßgebliche Rolle zu spielen. Und dieser Erstligist ist wiederum genau der, der den VfB Stuttgart erst zum Zweitligisten gemacht hat.

LeGente nennen sie Christian Gentner in Stuttgart, er gehört schon jetzt zu den ewigen VfBlern, auf dem Cover des dicken 125-Jahre-Jubiläumsbandes ist er oben rechts drauf, er ist dort besser zu erkennen als Jürgen Klinsmann oder Guido Buchwald. Und nun ist diese VfB-Legende also plötzlich een Baliner, wa.

377 Erstligaspiele

Christian Gentner ist ingesamt für den VfB Stuttgart 278 Mal und für den VfL Wolfsburg 99 Mal angetreten. Der einzige noch aktive Profi mit mehr Einsätzen: Claudio Pizarro (472). Auf Rang drei der Liste folgt Manuel Neuer (372). Insgesamt die meisten Bundesliga-Spiele bestritt Karl-Heinz Körbel (602), alle für Eintracht Frankfurt.

Die Geschichte von Christian Gentner ist aber auch eine Geschichte darüber, dass es sie nicht mehr gibt: die Romantik, von der die Fankurven immer noch träumen. Gentner selbst ist übrigens auch kein Romantiker, er hätte das nie eingefordert: dass sie ihm beim VfB folklorehalber noch mal einen neuen Vertrag geben. "Dass die Verantwortlichen nicht mehr mit einem fast 34-Jährigen planen, dessen Vertrag ausläuft, das kann man aus meiner Sicht nachvollziehen", sagt Gentner. Stuttgarts neue Verantwortliche, der Sportvorstand Thomas Hitzlsperger und der Sportdirektor Sven Mislintat, haben ja auch Andreas Beck und Dennis Aogo, beide 32, mit ein paar knappen Sätzen aus der Stadt hinausbegleitet, sie wollen in der zweiten Liga nicht mehr so viele Spieler im Kader haben, die vor dem Wimmelbild ins Stadioninnere flüchten mussten. Gentner versteht das.

Was er nicht versteht, und zwar bis heute nicht: Warum es nach der verlorenen Relegation noch mal eine Woche gedauert hat, bis sein Bauchgefühl eine amtliche Bestätigung erhielt. "Ich habe schon im März gespürt, dass sie nicht mit mir weitermachen wollen", sagt er, "und ich hätte mir schon gewünscht, dass sie mir das früher offen sagen." Gentner ist sogar kurz in den Urlaub gefahren nach dem Abstieg, dann kam er für einen Abend nach Stuttgart zurück, und da haben ihm Hitzlsperger und Mislintat dann die unfrohe Botschaft überbracht. "Wirklich schlecht" sei das gelaufen, sagt Gentner, "und die Verantwortlichen wissen auch, dass ich das so sehe".

Gentner hat insgesamt 17 Jahre beim VfB gespielt, er war vielleicht der letzte treue Husar der Liga, und er findet, die Verantwortlichen hätten ihm ruhig vertrauen können. Er hätte sich schon weiter reingehauen im Abstiegskampf, er hätte schon weiter seine Läufe gemacht, auch wenn er gewusst hätte, dass es im Sommer zu Ende geht. Aber natürlich weiß er auch, dass Verantwortliche das Recht haben, anders zu denken. Beim VfB wollten sie Ruhe im Verein haben, sie wollten nicht, dass die entscheidende Saisonphase womöglich überlagert wird von Dankbarkeitsdebatten. Thomas Hitzlsperger ist nicht als kühler Abwickler bekannt, aber er wollte halt nicht, dass es heißt: Wie können die nur den treuen Gentner verjagen, und das mitten im Abstiegskampf? Können die damit nicht bis nach Saisonende warten?

Enttäuscht war er von Hitzlspergers Entschluss. Aber: "Ich bin nicht nachtragend."

Am Ende hat nun ausgerechnet der 1. FC Union von diesem Dilemma profitiert. "Es gab auch die Möglichkeit, nach Australien oder in die USA zu wechseln", sagt Gentner, "aber weil ich in Stuttgart so spät Klarheit hatte, war die Vorlaufzeit zu kurz. Mit Familie hätte so ein Abenteuer besser vorbereitet werden müssen."

So gesehen hat es Gentner ironischerweise seinem VfB zu verdanken, dass er nun noch mal die Chance hat, neben einer regionalen auch eine überregionale Legende zu werden. Er ist zweimal deutscher Meister geworden, ohne je für den FC Bayern oder den BVB gespielt zu haben, er hat das mit dem VfB und dem VfL Wolfsburg geschafft. 377 Erstligaspiele stehen in seiner Personalakte, damit führt er die Liste der noch aktiven Profis an, abgesehen von Claudio Pizarro (472), der aber wahrscheinlich nicht gilt, weil er ja niemals aufhört. In dieser Saison könnte Gentner in den erlesenen 400er-Klub aufrücken, er könnte Klaus Augenthaler (404) überholen oder Pierre Littbarski (406).

"Mein Körper gibt mir im Moment das Signal: Okay, wir können noch ein bisschen", sagt Gentner. Mit Unions Verantwortlichen hat er vereinbart, dass sie im Winter mal schauen, ob er vielleicht sogar noch ein weiteres Jahr seine Läufe startet. In der Spiele-Rangliste könnte es dann in Richtung Gerd Müller (427) gehen.

"Ich hätte das schriftlich fixieren lassen sollen."

Der Erstligaspieler Christian Gentner wird auf jeden Fall weiter beobachten, wie es seinem VfB in der zweiten Liga geht. Thomas Hitzlsperger hat schon mal angedeutet, dass man sich LeGente in Zukunft wieder beim VfB vorstellen könnte, in einer noch nicht exakt definierten Rolle. Gentner mag das nicht ausschließen, "ich bin kein nachtragender Mensch", sagt er, aber er will sich das lieber schriftlich geben lassen. Mit dem Sportvorstand Michael Reschke und dem Präsidenten Wolfgang Dietrich hat er schon mal eine Zusammenarbeit nach seinem Karriereende vereinbart, aber unpraktischerweise sind die beiden inzwischen kein Sportvorstand und kein Präsident mehr.

"Ich hätte das schriftlich fixieren lassen sollen", sagt Christian Gentner, "das ist die Lehre, die ich daraus gezogen habe. Für mündliche Zusagen ist die Fluktuation einfach zu hoch." Im Profifußball. Beim VfB. Und der Einzige, der wirklich für Kontinuität und Treue steht, der spielt jetzt für Union Berlin.

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