Flüchtlingspolitik:Nordafrikas gespaltenes Bewusstsein

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Beat Stauffer: Maghreb, Migration und Mittelmeer. Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika. NZZ libro, Zürich 2019. 320 Seiten, 38 Schweizer Franken. (Foto: N/A)

Beat Stauffers Analyse über Maghreb und Migration.

Von Wolfgang Freund

Maghreb-Literatur auf Deutsch ist im Vergleich zu dem, was auf dem französischsprachigen Büchermarkt zu diesem Thema publiziert wird, kaum existent. Das trifft auf den im engen Sinne akademischen Bereich wie auch für Bücher zu, die sich an einen breiteren Leserkreis wenden. Das liegt natürlich an der Geschichte. Frankreich hat den zentralen Maghreb, also die nordafrikanischen Länder Tunesien, Algerien und Marokko bis zu rund 130 Jahren (im Falle Algeriens) kolonisiert, während die Deutschen auf diesem Gebiet in ganz anderen Weltgegenden tätig gewesen waren, einmal abgesehen von Kaiser Wilhelms II. "Panthersprung nach Agadir" (1911) oder Erwin Rommels Afrikakorps mit seinem nordafrikanischen "Gastspiel" im Zweiten Weltkrieg. Die nach 1945 erfolgte deutsche Maghreb-Invasion, in diesem Falle Tunesiens und Marokkos, war und ist (bislang) massentouristischer Natur. Das Buch von Beat Stauffer, Jahrgang 1953, Deutschschweizer aus Basel, hat darum Aufmerksamkeit verdient, zumal der Autor, Journalist bei der Neuen Zürcher Zeitung, in der Schweiz als hervorragender Maghreb-Kenner gehandelt wird. Er spricht viele Problemkreise in diesem geografischen Themenraum an und verknüpft sie zu deutlichen Einsichten, die weiteres Nachdenken geradezu aufdrängen. Das pädagogische Ziel von Stauffer, beim Leser "Aha"-Reaktionen hervorzukitzeln, wird erreicht.

Es geht viel um Tunesien. Doch dieses Land beschreitet seit Jahrzehnten einen Sonderweg

Das Buch ist andererseits sehr Tunesien-zentriert; offenbar hat der Autor zu diesem Land besondere Beziehungen entwickelt. Tunesien als Modellfall für den Maghreb, zu dem geopolitisch verstanden auch Libyen und Mauretanien gehören? Stauffers Sicht der Dinge tendiert ein wenig in diese Richtung. Tunesien ist aber auch vielfach "anders" als die beiden "Brüder" des zentralen Maghrebs, Algerien und Marokko, von der weiter gefassten arabischen Welt erst gar nicht zu reden. Habib Bourguiba, Begründer und erster Staatspräsident des unabhängigen Tunesiens (1956-1987) sagte es einst so: "Alles, was östlich von Ben Gardane [tunesisches Städtchen an der Grenze zu Libyen] liegt, ist vom Übel."

Das nach 2011 "demokratisch" gewordene Tunesien hat eine eher ungewöhnliche "postrevolutionäre" Entwicklung durchlaufen. Die Abwendung vom Regierungsstil des vorausgegangenen "Demokrators" Zine el-Abidine Ben Ali (1987-2011), hin auf effektiven parlamentarischen Pluralismus mit neuen bürgerlichen Freiheiten und Zurückdrängung des Faktors "Islam" im politischen Geschehen ist einmalig in der kurzen Geschichte des sonstwo weitgehend verdunsteten "Arabischen Frühlings". Wichtigster Faktor, der den tunesischen Sonderweg erklärt: die totale rechtliche Gleichstellung der tunesischen Frau, und dies seit 1956, dem Jahr der politischen Unabhängigkeit. Sodann: die staatlich geförderte arabisch-französische Zweisprachigkeit des Landes. Habib Bourguiba machte daraus geradezu ein nationales Dogma. Der in Paris ausgebildete Jurist hatte rasch verstanden, dass Tunesiens Zukunft nur durch eine vielfältige Anbindung an das nahe Europa gesichert bleibt (Flugzeit Tunis-Palermo 30, Tunis-Marseille etwas mehr als 60 Minuten, Tunis-Paris: gute zwei Stunden mit fünf oder sechs täglichen Verbindungen, "Vorortzüge" also). Schließlich: von etwa elf Millionen Tunesiern besitzt aus verschiedenen Gründen eine gute Million die doppelte tunesisch-französische Staatsangehörigkeit. Und was Beat Stauffer überhaupt nicht anspricht: die iberisch-moriskische Komponente der tunesischen Zivilisation, die sich in dieser ausgeprägten Form weder in Algerien noch in Marokko erhalten hat, etwa heute noch erkennbar an der andalusisch geprägten Architektur eines Städtchens wie Testour, 80 Kilometer westlich von Tunis auf dem Weg nach Algerien. Oder auch in einer sehr "andalusisch" geprägten Esskultur und Musik. Der tunesisch-arabische Dialekt wimmelt von "spanischen" Brocken, die nirgendwo sonst im Maghreb vorkommen oder als solche verstanden würden: Erbe aus den Jahrhunderten der spanischen Inquisition.

Viele Tunesier vor allem der jüngeren Generationen bezeichnen ihre neue postrevolutionäre "demokratische Republik" als "Schizoland", also bewusstseinsgespalten zwischen Allahu Akbar-Islamismus und französisch geprägter Westlichkeit. Beide Bewusstseinslagen gehören zur tunesischen DNA-Struktur wie auch entsprechend zu jener des gesamten zentralen Maghrebs. Das Buch zeigt anhand ausführlicher Interviews mit direkt Betroffenen (etwa Anwärter für "Schlauchbootmigration" übers Mittelmeer), wie die jeweiligen Elemente unauflösbar ineinander verhakt sind. Nur beiden Tendenzen gerecht zu werden, könnte zu tragfähigen Lösungen führen. Der Gedankenblitz, eine derartige Quadratur des Kreises gestattend, hat jedoch bislang nirgendwo eingeschlagen.

Im Zentrum des Buches steht der chaotische Verlauf der "Völkerwanderung" nach Europa. Stauffers Analysen treffen ins Schwarze. Er versucht Lösungen aufzuzeigen, jenseits von Mitleidskultur oder white man's Rassismus; intelligent, schweizerisch-pragmatisch geht er vor. Doch ist es mehr als Herumdoktern an Symptomen, wie etwa der Versuch, Asyl- oder sonstige Migrationsanträge in die Botschaften der jeweiligen potenziellen europäischen Aufnahmeländer "zurückzuverlegen"? Ob eine solche "Maßnahme" zur Eindämmung "illegaler" Migrationsströme führen kann, steht in den Sternen; denn entscheidende Auslöser "realexistierender" Migrationen bleiben wohl die kommunizierenden Röhren, wo das Übervolle unaufhaltsam ins Leere drängt.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Lebt heute in Südfrankreich.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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