Film:Jenseits von Heidi

Chronist einer anderen Schweiz: Das Filmfestival Locarno widmet dem Regisseur Fredi M. Murer eine Retrospektive. Zu Besuch bei einem Anarchisten, der die Genauigkeit liebt.

Von Isabel Pfaff

Fredi M. Murer grinst ins Treppenhaus hinunter. "77 Stufen, schaffen Sie das?" Der Schweizer Filmemacher empfängt auf Strümpfen, ein kleiner, alter Mann mit buschigen Augenbrauen und sanfter Stimme. 77 Stufen: Murer mag es genau. Als er durch seine verwinkelte Atelierwohnung in der Zürcher Altstadt führt, nennt er Baujahre, erzählt von den Nonnen, die hier einst schliefen, holt sogar ein Modell der Wohnung hervor, das er selbst gebaut hat. Er zeigt auf die Ecken. "Hier gibt es gar keine rechten Winkel." Mehr noch als Genauigkeit liebt Fredi Murer das Abweichen. Vielleicht, weil es den Künstler Murer sonst nicht gäbe.

Der Filmemacher setzt sich an seinen kleinen Küchentisch, draußen wärmt die Augustsonne den begrünten Balkon. Er verbringt viel Zeit in dieser Wohnung, sichtet sein Archiv, digitalisiert seine Filme. Er betrachtet sich als Regisseur im Ruhestand, sein 2014 veröffentlichter Film "Liebe und Zufall" sollte der letzte sein. Ins Kino geht er nicht mehr, auch nicht auf Festivals. Er habe "eine Überdosis Film" in seinem Leben gehabt, sagt er.

In ein paar Tagen wird Murer aber eine Ausnahme machen. Das Filmfestival Locarno ehrt ihn am 15. August mit dem Pardo alla carriera, dem Preis für sein Lebenswerk. Als "Schlüsselfigur des unabhängigen Schweizer und internationalen Films", als "freien und visionären Künstler", der das schweizerische Filmschaffen geprägt habe, bezeichnen ihn die Festivalmacher. Murer lächelt vorsichtig. "Das freut mich schon", sagt er schließlich. Und erzählt von seinen Weggefährten, von Markus Imhoof, Alain Tanner, Xavier Koller, Yves Yersin: einer Generation von autodidaktischen Filmemachern, die das Schweizer Kino in den Siebzigern zu erneuern begannen, die brechen wollten mit dem Klischee vom intakten Käse-, Schokolade- und Heidiland. Murer will den Preis dieser Generation widmen. "Wir haben sozusagen Filme aus dem Nichts gemacht."

In der Schule muss er auf Holzscheiten knien

Filme aus dem Nichts - vor allem aber quer durch die Genres, ohne Rücksicht auf Normen. Murers Werk umfasst experimentelle Kurzfilme, Spielfilme, Dokumentarfilme, sogar Science-Fiction. In ihrer Vielfalt haben seine Filme etwas Anarchisches, und auch seine Figuren, fiktional oder nicht, eint ihr Wille, sich aufzulehnen oder aus ihren Welten zu fliehen. Immer wieder spürt Murer diesen Ausreißern nach - wahrscheinlich, weil er selbst einer ist.

1940 als jüngstes von sechs Kindern im Kanton Nidwalden geboren und in Uri aufgewachsen, stammt Murer aus jenem starrköpfigen, konservativen Herzen der Schweiz, das als Keimzelle der Eidgenossenschaft gilt. Als Kind hat er schwere Legasthenie, doch die Geistlichen, die damals in den Urner Schulen herrschen, haben keine Ahnung von dieser angeborenen Störung. Murers Diktate und Aufsätze kommen als "rote Schlachtfelder" zurück, er muss auf Holzscheiten knien, verbringt unzählige Nachmittage mit Strafarbeiten. Dass er Handorgel spielt und wunderbar zeichnet, interessiert seine Lehrer nicht. Bis zum Ende erlebt Murer die Schulzeit als eine Ansammlung von Kränkungen und Missverständnissen. Zur Rettung wird ihm sein Elternhaus, ein weltoffener Handwerkerhaushalt.

HÖHENFEUER Der Film erzählt die Geschichte vom Bub THOMAS NOCK und seiner Schwester Belli JOHANN

Eine Szene aus dem Film „Höhenfeuer“, der zu den Höhepunkten in Murers Schaffen zählt.

(Foto: imago images / United Archives)

Murers Vater ist ein schweigsamer Schreiner, der mehrere Jahre in Nord- und Südamerika verbracht hat und schließlich in die Schweiz zurückgekehrt ist, seine Mutter eine Schneiderin, die ihm nicht nur einbläut, niemals ein Angestellter zu werden, sondern sich auch an Sonntagen die Freiheit nimmt, den ganzen Tag zu lesen. Beide sind Freigeister in einem sonst katholisch und autoritär geprägten Milieu. Sie verstehen, dass ihr Sohn dieser Welt entfliehen muss. Mit 17 Jahren zieht Murer nach Zürich. Er macht eine Ausbildung an der Kunstgewerbeschule, zunächst im Fach wissenschaftliches Zeichnen, dann wechselt er zur Fotografie. Er findet Gleichgesinnte, beginnt mit dem Filmen. Die frühen Werke sind experimentell, Murer dreht kurze Stummfilme oder surreale Künstlerporträts. Für "Vision of a blind man" (1968) filmt er einen Tag lang mit verbundenen Augen.

Heftiger könnte der Kontrast zu seiner Herkunft in diesen Jahren kaum sein. Und doch sagt Murer heute: "Die frühe Kindheit ist viel prägender als man es wahrhaben möchte." Er führt seine anarchischen Arbeiten auf genau jenen Zorn zurück, den die Urner Lehrer mit ihren Demütigungen in ihm entfacht haben: ein Zorn auf Schule, Obrigkeit, und, ja, auch auf die offizielle Schweiz. Er kehrt seinem Land in den Jahren darauf oft den Rücken; frustriert von dem Unverständnis, das ihm entgegenschlägt, verbringt er Zeit in Frankreich, England, den USA.

Doch Fredi Murer ist nicht nur ein Ausreißer, er ist auch ein Rückkehrer. Wie ein Fremder, der aber die Sprache der Einheimischen spricht, nähert er sich in den Siebzigern seiner innerschweizerischen Heimat wieder an - und setzt ihr ein unsentimentales und doch poetisches Denkmal.

Als er für ein Filmprojekt über Urner Sagen recherchiert, stellt er fest, dass die Sagenwelt in dem Bergkanton kaum noch eine Rolle spielt. Er dreht schließlich einen Dokumentarfilm über die traditionelle Landwirtschaft in Uri und die beginnende Industrialisierung, die die alten Lebensmodelle verdrängt. In schlichten Bildern ohne Spielereien erzählt "Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind" (1974) die Geschichte einer Bergbevölkerung im Wandel. In ähnlicher Einfachheit dokumentiert Murer gut 15 Jahre später den Kampf einer Gemeinde im Kanton Nidwalden gegen ein geplantes Atomendlager. "Der grüne Berg" (1990) ist angelegt als eine "Landsgemeinde", also als filmische Form der traditionellen schweizerischen Meinungsbildung.

Poesie hat iel mit Genauigkeit zu tun

Sicherlich der Höhepunkt seines Schaffens ist "Höhenfeuer" (1985), eine wortkarge Liebesgeschichte zwischen einem gehörlosen Jungen und seiner Schwester, die isoliert auf dem elterlichen Hof in den Urner Bergen aufwachsen und letztlich diese Isolation aufbrechen. Ähnlich wie in den beiden Dokumentarfilmen achtet Murer auch bei "Höhenfeuer" auf fast schon ethnografische Genauigkeit. Mit seinem Kameramann Pio Corradi gelingt ihm so ein feinsinniges Meisterwerk, das 1985 in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wird. Noch 2014 wählen ihn die Mitglieder der Schweizer Filmakademie zum besten Schweizer Film aller Zeiten. An dem Zürcher Küchentisch zeigt Murer sein "Höhenfeuer"-Drehbuch. Der Ordner enthält nur wenige Textseiten, dafür ein umfangreiches Storyboard. Stills der später gedrehten Szenen kleben neben Murers Zeichnungen: Sie sind fast identisch. "Poesie hat viel mit Genauigkeit zu tun", sagt er. Ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Robert Walser, aber auch seines eigenen Vaters, eines "genialen Handwerkers".

SWITZERLAND BRUNO GANZ FUNERAL

1940 wird Fredi Murer im Kanton Nidwalden geboren. In Uri wächst er auf, inmitten der Schweizklischees. Er hat auch damit seinen Frieden gemacht.

(Foto: picture alliance/KEYSTONE)

Seine Herkunft sollte Fredi Murer nicht mehr loslassen. Sein Abschiedsfilm "Liebe und Zufall" (2014) ist eine Hommage an seine Eltern, und auch in "Vitus" (2006), der Geschichte über einen hochbegabten Jungen, wimmelt es von Spuren seiner Kindheit: Vitus' Großvater ist Schreiner und gibt seinem Enkel Weisheiten mit, die Murer von seinem Vater erhalten hat. Und Vitus darf im Film Dinge tun, von denen der kleine Fredi Murer immer geträumt hat: Klavierspielen oder an der Börse wahnsinnig viel Geld verdienen.

Wenn Murer nun noch einmal nach Locarno zurückkehrt, tut er es als sehr schweizerischer Filmemacher, als "local hero", wie er mit einem Zwinkern sagt, der der Welt die entlegensten Winkel dieses Landes gezeigt und erklärt hat. Er hat damit seinen Frieden gemacht.

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