Psychopharmaka:In Würde altern

Eine SZ-Leserin ist der Meinung, der Einsatz von Psychopharmaka nehme alten Menschen das Recht auf Selbstbestimmung. Eine andere Leserin meint, es gebe zu wenig Personal und plädiert für mehr ehrenamtliche Helfer.

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SZ-Zeichnung: Jan Rieckhoff

Zu "Der Rausch" vom 30. Juli:

Das Problem ist vielschichtig

Die Zeiten ändern sich, und manches wird auch besser. Das ist die gute Nachricht. Die besteht in diesem Fall darin, dass Werner Bartens in seinem Artikel Not und Elend in unseren Altersheimen relativ vielschichtig darzustellen versucht und auf billige Polemik verzichtet. Das Problem in Pflegeheimen liegt ja primär an fehlender Zeit und Zuwendung für die älteren Menschen aufgrund zu weniger und oft unzureichend ausgebildeter Pflegekräfte.

In dieser Situation entsteht, neben medizinischen Erwägungen, oft bei Betroffenen selbst, den Pflegekräften oder auch den Angehörigen der Wunsch nach Psychopharmaka - zum Beruhigen, zum Schlafen, zum Stimmungsaufhellen. Und da gibt es natürlich, wie immer, sofort zwei konträre Sichtweisen, die sich trefflich zum Skandalisieren eignen würden: "Ärzte stellen mit chemischer Keule alte Menschen ruhig" oder "Ärzte verweigern älteren Menschen Psychopharmaka und vermehren dadurch ihr Leid".

Dass der Autor auf die Verlockungen der Skandalisierung verzichtet und beide Gesichtspunkte nebeneinander darstellt, ehrt ihn und macht den Lesern eine differenziertere Sichtweise möglich. Denn beides kann ja nicht zugleich wahr sein. Und so kann der Satz "Es geht gerade im Alter ja auch darum, dass man sich wohlfühlt" und die Frage, ob das nur auf das Alter zu begrenzen ist oder durch Psychopharmaka angestrebt werden sollte, kontrovers bleiben.

Dr. med. Klaus Fuhrmann, Freiburg

Das Recht auf Selbstbestimmung

Warum erhalten so viele ältere Menschen in einer stationären Pflegeeinrichtung Psychopharmaka, wird in dem Artikel gefragt. Zu Recht wird die Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer zitiert, die von "ritualisierter Lösungsstrategie der Ruhigstellung" spricht, da eine fürsorgende Pflege nicht ausreichend geleistet wird. Dieser Tatbestand ist richtig und erschreckend zugleich, ist er doch Symptom einer Diskriminierung von älteren Menschen und eines gewinnorientierten Gesundheitssystems. Dort haben die Pharmaindustrie und Ärzte das Sagen, wohingegen die Pflegefachkräfte immer noch in einer untergeordneten Position sind. Es gibt Studien, die den Rückgang von herausfordernden Verhaltensweisen wie Schreien und Rufen bei Menschen mit Demenz belegen, wenn sie in einem guten Milieu mit viel Aufmerksamkeit und einer wertschätzenden Kommunikation ressourcenorientiert gepflegt werden.

Dazu bedarf es aber der qualifizierten Pflegekräfte, die aufgrund der hohen Belastungen und der schlechten Bezahlung dem Beruf oft den Rücken kehren. Häufig findet in stationären Pflegeeinrichtungen eine medikamentöse Über-, Fehl-, oder Unterversorgung statt. Antidementiva werden aus Kostengründen zu selten, hingegen werden Neuroleptika und Psychopharmaka zu oft verordnet. Nebenwirkungen werden aufgrund der Polypharmazie nicht richtig zugeordnet und selten dokumentiert.

Hinzu kommt, dass bei einem Großteil der Menschen insbesondere mit Demenz keine adäquate diagnostische Abklärung stattfindet. Die erforderliche Aufklärung und Beratung unterbleibt häufig. Die eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit bei Menschen mit Demenz wird meist als Grund für die fehlende ärztliche Aufklärung und Einwilligung bei der medikamentösen Therapie angeführt, was jedoch nicht weniger als ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Autonomie darstellt. Angesichts dieser Problematik, die uns früher oder später alle betreffen kann, liest sich der zweite Teil des Beitrags wie ein Sammelsurium von Statements zum freiwilligen Umgang mit Drogen bei älteren Menschen. Diese Aspekte haben ihre Berechtigung, passen aber nicht zu der Realität unserer Pflegeeinrichtungen, wo das Selbstbestimmungsrecht von vulnerablen Menschen häufig mit Füßen getreten wird.

Prof. Dr. Olivia Dibelius, Berlin

Die Gesellschaft muss umdenken

Meine Mutter, beinahe 100, musste dieses Jahr in ein Pflegeheim umziehen. Da ich fast täglich bei ihr bin, denke ich, dass ich etwas mehr Einblick in den Heimalltag habe, als all die vom Autor beschriebenen "Monats- oder gar nur Weihnachtsbesucher". Viele alte Menschen werden abgeschoben und vergessen, sie werden in unserer nach Karriere, Jugend und Dynamik strebenden Gesellschaft oft nicht mehr wahrgenommen. Respekt für jeden Angehörigen, der die Pflege zu Hause so lange wie möglich durchführt und somit auch die Heime entlastet.

Das Personal in den Heimen ist am Limit, aber der "offizielle Personalschlüssel" ist erfüllt. Es fehlen auch Ehrenamtliche, Menschen, die einfach Zeit für unsere Alten haben. Heimleitung, Pflegekräfte und Sozialmitarbeiter versuchen ihr Möglichstes, ihnen ist kaum ein Vorwurf zu machen. Sie sind Menschen, und sie machen Fehler, gerade bei Druck und Überlastung. Meine Mutter wird eine Verbesserung dieses Systems wohl nicht mehr erleben, aber ich zweifle mittlerweile auch daran, dass es bei mir einmal anders sein wird.

Daniela Iyen, Grafrath

Gefahr durch Neuroleptika

Vielen Dank für diesen differenzierten Artikel, der ein sehr heißes Eisen anpackt. Den problematischsten Aspekt des Themas klammert der Autor allerdings leider aus: die Verabreichung von Neuroleptika an demente Patienten. Diese Medikamente haben schlimme Nebenwirkungen, die den Zustand vieler Patienten schnell und oft irreversibel verschlechtern. In manchen Heimen geht der Missbrauch dieser eigentlich zur Behandlung von Psychosen vorgesehenen Medikamente so weit, dass Patienten nach kurzer Behandlungszeit in einen höheren Pflegegrad eingruppiert werden müssen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Renate Kraft, Hamburg

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