Zeitgeschichte:Manche strauchelten heftig

DDR - Rostock-Lütten Klein

Lütten Klein im Nordwesten Rostocks, festlich beflaggt zur Ostseewoche im Juli 1971. Die Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigerjahren im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR auf freiem Feld errichtet.

(Foto: picture-alliance/ ZB)

Woher kommt die Wut im Osten? Der Soziologe Steffen Mau über die Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein, in der er aufgewachsen ist

Von Burkhard Müller

Der Erklärungsbedarf ist derzeit hoch: Warum nur, nachdem er drei Jahrzehnte lang die geforderten Anpassungsleistungen mehr oder weniger folgsam und erfolgreich geliefert hat, bockt der deutsche Osten auf einmal und neigt sich einem rechten Populismus zu, der behauptet, für etwas Älteres, Echteres und Besseres zu stehen, als es BRD, EU, und Globalisierung zu bieten haben?

Steffen Mau, Verfasser des Buchs "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft", nimmt für sich als Alleinstellungsmerkmal das Privileg eines doppelten Zugangs in Anspruch. Er ist heute Professor für Soziologie, stammt aber aus der titelgebenden Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein und wurde von der Wende überrollt, als er gerade seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee versah. Er versteht sich als jemand, der seinen Gegenstand von innen und außen zugleich ins Auge fasst und empirisch im doppelten Sinn des Worts verfährt, nämlich als Wissenschaftler und als Teil jener Lebenswelt, die er untersucht.

Eine solch doppelte Blickachse kann je nachdem erst die volle räumliche Tiefe erschließen - oder ins Schielen verfallen, wenn die differierenden Bilder nicht zur Synthese finden. Mau berichtet, wie er sich in der Zeit des Umbruchs von seinem alten Milieu entfernt und nur noch gelegentlich dorthin zurückkehrt. "Aus der Teilnehmer- wechselte ich in eine Besucher- und Beobachterperspektive, was für mich als jungen Soziologiestudenten natürlich besonders interessant war, da ich mich intensiv mit der damals boomenden Transformationsforschung beschäftigte. (...) Das Feldexperiment lief auf vollen Touren und erfasste Bekannte, Nachbarn, ehemalige Mitschüler, von denen manche heftig strauchelten." Und wenig später: "Gerade weil sie aus der Mitte der Gesellschaft stammten, war es umso schwerer zu ertragen, mit ansehen zu müssen, wie sie unter die Schwelle vor Kurzem noch geltender Anerkennungsstandards gerieten."

Mau erspart sich die Frage, ob die Wende von 1989 eine Revolution war oder eine "Implosion"

Das flapsige Nebeneinander von Beobachterperspektive beim großen "Feldexperiment" und Nichtmitansehenkönnen im privaten Bereich erweckt den Eindruck des Zynismus. Zynismus hat nichts Teuflisches. Zynisch ist, wer die Brille abnimmt und sich mit geschlossenen Augen den Nasenrücken reibt, weil er nicht die Kraft hat, die offenkundige Diskrepanz beim Namen zu nennen, als läge letztlich nichts daran, und als käme er persönlich auch so davon. Dass ein solcher Zynismus unbewusst und unfreiwillig wäre, mag den verlorenen Sohn Rostocks entschuldigen; doch schwerlich den Wissenschaftler, der sich über die Voraussetzungen seiner Tätigkeit unzulängliche Rechenschaft gibt.

Auch in der Art der Darstellung bricht sich dieses Zweierlei Bahn. Insgesamt wiegt der wissenschaftliche Duktus vor, doch dazwischen schieben sich immer wieder persönliche Erfahrungsberichte, die in dieser Vereinzelung allerdings nicht über das Anekdotische hinauskommen. Mau betont, dass er für sein Buch mit Dutzenden von früheren und gegenwärtigen Bewohnern der Siedlung gesprochen habe; aber deren Beiträge bleiben marginal in einer Weise, die an Herablassung grenzt. Als der junge Student während der Ausländerjagden von 1992 mit dem Rad nach Lichtenhagen fährt, das gleich neben Lütten Klein liegt - eine einmalige Gelegenheit! - vermag er weder als Landsmann noch als Augenzeuge noch als Soziologe viel Erhellendes zur Lage beizusteuern; alles geht irgendwie durcheinander.

Auch sonst trägt das Buch Züge mangelnder Reflexion. Dass im deutschen Osten einer Umfrage zufolge nahezu zwei Drittel der Bevölkerung die Demokratie nicht notwendig für die beste Staats- und Regierungsform halten, führt bei Mau nur zu sorgenvollem Kopfschütteln. Der lehrreiche Widersinn eines demokratisch legitimierten Antidemokratismus geht ihm nicht auf. Er stellt zur Debatte, ob der Trend zur populistischen Radikalisierung eher in der Klasse oder der Kultur begründet liegt, ohne (außer in einem schwachen Nachklapp) das dialektische Verhältnis der beiden zu registrieren, wo er als gelernter DDR-Bürger doch eigentlich etwas von Basis und Überbau gehört haben sollte.

Und er glaubt allen Ernstes, sich die Frage ersparen zu dürfen, ob es sich bei der Wende von 1989 um eine Revolution oder um eine "Implosion" des Systems gehandelt, ob das Volk sie also vollbracht oder erlitten habe - das wäre ja Politik! Überhaupt kann man an diesem Buch einiges darüber lernen, zu welchen Blind- und Fehlstellen es führt, wenn soziologische Fragen ausschließlich mit den Methoden der Soziologie bearbeitet werden.

Ansonsten hat das Buch das relative Verdienst, auf rund 250 Seiten einen Abriss zur viel diskutierten Frage zu bieten, weshalb der Osten, obschon dreißig Jahre vereinigt, immer noch nicht so recht angekommen scheint. Von einem Abriss sollte man billigerweise keine Originalität erwarten.

Am Ende spricht Mau von einer "frakturierten" Gesellschaft, einer Gesellschaft der Brüche

Das weitaus meiste von dem, was Mau zu sagen hat, kennt man bereits aus anderen Quellen: dass die DDR eine nach unten nivellierte Gesellschaft gewesen ist; dass Begünstigungs- und Tauschwirtschaft eine erhebliche Rolle spielten; dass die herrschende Elite sich zwar gegen die Bürger weitgehend abschottete, aber, von ein paar Volvos und Westschnäpsen abgesehen, kaum nennenswerte materielle Vorteile genoss (ein Sozialismus mit menschlichem Wandlitz sozusagen). Auch von den Gründen, aus denen die Unzufriedenheit zunimmt, hat man schon gehört, von all den Fehlern, die absichtlich oder unabsichtlich bei der Vereinigung gemacht wurden, von Besserwessis und Jammerossis, existenzieller Verunsicherung, Elitenaustausch und Ohnmachtserfahrung.

Einen selbständigen Ansatz lässt Mau am ehesten im Nachdruck erkennen, den er auf zwei Punkte legt: Der heutige völkische Furor der östlichen Rechtsgruppen habe seine Wurzel in dem vereinheitlichenden Nationalgefühl, das der Westen 1990 geschürt hat, um von den hinderlichen Differenzen abzulenken. Und der Unmut über die Zuwanderung von Flüchtlingen und Fremden entspringe einer tiefen Erschöpfung und dem Widerstand dagegen, sich nach den traumatischen Verwerfungen am Ende der DDR schon wieder in einer gewandelten, globalisierten Welt neu orientieren zu sollen. "Das Ganze nicht noch einmal!", sei der angsthafte Affekt, der hinter der Wut auf die Ankömmlinge stecke.

Mau bietet kein Rezept, wie der gegenwärtige Zustand zu ändern wäre; das sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Wohl aber ist der Begriff unbefriedigend, auf den er diesen Zustand bringt. In der Soziologie gibt es offenbar so etwas wie einen Preis für denjenigen, der die jeweils aktuelle Gesellschaft auf einen neuen, zugespitzten Namen tauft: So haben wir die Leistungs-, die Bildungs-, die Freizeit-, die Risiko- und manche andere Gesellschaft vorgesetzt bekommen. Da möchte auch Mau dabei sein und spricht, nachdem er von der Tatsache der Transformationsgesellschaft ausgegangen ist, im letzten Kapitel von einer "frakturierten" Gesellschaft, einer Gesellschaft der Brüche also. Dass es sich bei der ostdeutschen Gesellschaft in vielfacher Hinsicht um eine solche handelt, wird niemand bestreiten. Aber das erklärt nichts; es stellt jenen Befund dar, der allererst zu erklären wäre.

Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 286 Seiten, 22 Euro.

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