Paneuropäisches Picknick:Was die EU den östlichen Mitgliedern gebracht hat

25. Jahrestag des Europa-Picknicks im   ungarischen Sopron

Kurzfristige Grenzöffnung am 19. August 1989.

(Foto: dpa)

30 Jahre nach dem Paneuropäischen Picknick haben die Länder im Osten der EU Abertausende Einwohner an Mitgliedstaaten im Westen verloren. Eine traurige Bilanz.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

In diesen Tagen jährte sich ein Ereignis zum 30. Mal, das als Paneuropäisches Picknick in die Geschichte einging. Ungarische und österreichische Aktivisten hatten angekündigt, am 19. August 1989 für drei Stunden ein Tor der Grenze zu öffnen, um den Nachbarn von diesseits und jenseits die Gelegenheit zu bieten, einander kennenzulernen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Das war ein symbolischer Akt, mehr aber noch ein wagemutiger Versuch, mit dem die ungarischen Reformkommunisten auszuloten trachteten, ob die Sowjetunion des Reformers Gorbatschow die Öffnung des Eisernen Vorhangs hinnehmen oder ob sie darauf mit bürokratischer Repression und militärischer Mobilisierung reagieren werde. Wie bekannt, nutzten mehr als 600 in Ungarn urlaubende Bürger der DDR die kurze Öffnung der Grenze zur Flucht nach Österreich. Da die befürchtete Reaktion der Sowjetunion ausblieb, gilt jenes Picknick unweit der ungarischen Stadt Sopron heute als Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands; und gar als letzter Anstoß eines Prozesses, der den Ostblock binnen wenigen Wochen so rasant zerlegte, wie das kaum jemand in Ost wie West geahnt hatte.

Das Jubiläum hat viele Kommentatoren fragen lassen, was aus den Hoffnungen von damals geworden ist, wie es um die Demokratie in den einst hinter den Eisernen Vorhang verwiesenen Ländern steht und wohin sie, die offene Grenzen, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, europäische Einigung verlangten, sich entwickelt haben. Die Bilanz fällt deprimierend aus, gerade was jene Länder betrifft, die inzwischen der EU beigetreten sind. Deren Regierungen pflegen fast alle einen dumpfen Nationalismus, streben mehr oder weniger rabiat danach, die Pressefreiheit abzuschaffen, den Rechtsstaat auszuhebeln, die Gesellschaft zu reglementieren und verweigern sich dort der europäischen Zusammenarbeit, wo es nicht darum geht, Gelder der Union korrupt in ihre eigenen Kassen umzuleiten.

Dennoch sollte man das Jubiläum des Paneuropäischen Picknicks auch dazu nützen, die Sache mal aus der anderen Richtung, vom Osten aus, zu betrachten. Gerade Kritikern wie mir, der ich seit Jahren und wie aus einer persönlichen Kränkung heraus etwa gegen das Polen des Jarosław Kaczyński und das Ungarn Viktor Orbáns wettere, steht es gut an, die Perspektive probeweise zu wechseln. Fragen wir also dieses Mal nicht, wie weit die östlichen Mitglieder der Union es auf dem Weg zur Demokratie gebracht haben, sondern was die Union ihnen gebracht hat.

Da gilt es als Erstes, auf ein schlichtes Faktum hinzuweisen: Fast ausnahmslos sind die mittel- und osteuropäischen Staaten von einer desaströsen Migration betroffen. Nein, nicht von jener Migration, die Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen und dem Mittleren Osten nach Europa hat aufbrechen lassen. Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, die Slowakei, Kroatien, die baltischen Staaten - sie alle haben vielmehr Hunderttausende meist junge Bürger an die reichen Länder der Union verloren. Auf meinen Reisen in den Osten bin ich in den letzten Jahren häufig durch verödete, nahezu entvölkerte Regionen gekommen. Tausende Ärzte haben Bulgarien und Rumänien verlassen und das ihre dazu beigetragen, den Ärztemangel im Westen zu mildern. Man darf es ihnen nicht vorwerfen, dass sie für sich und ihre Familien ein besseres Leben suchten; aber sie, die aus ihren Anstellungen regelrecht herausgekauft wurden, fehlen dort, wo sie einst ihre universitäre Ausbildung erhielten, und ihr Fehlen nötigt immer mehr Menschen, ihrerseits das Weite zu suchen. Bulgarien zählt heute 1,5 Millionen Einwohner weniger als vor dem Paneuropäischen Frühstück, Rumänien fast vier Millionen. Und es sind gerade die gut ausgebildeten und die tatkräftigen Leute, die ihren Ländern abhandenkommen.

Die USA praktizieren es schon lange. Sie lassen das öffentliche Bildungssystem verfallen, aber dank Hunderttausender hoch qualifizierter Einwanderer sind es immer noch sie, die weltweit die meisten wissenschaftlichen Spitzenkräfte aufzubieten haben. Deren Zukauf kommt günstiger, als ein breites Bildungssystem im eigenen Land zu finanzieren. Was aber, zum Teufel, hindert die reichsten Länder der EU, hindert etwa Deutschland, Frankreich, Österreich daran, genügend Mediziner auszubilden? Wir wollen uns ihre Ausbildung offenbar nicht mehr leisten, Gott sei Dank haben wir die armen Staaten der EU, aus deren Reservoir an Talenten und Fachkräften wir uns bedienen können. Die Personenfreizügigkeit ist ein hohes Gut; aber sie hat dem Westen genützt, dem Osten geschadet.

Dem Westen genützt? Natürlich nicht allen, die hier leben. Dem Osten geschadet? Ja, denn es gibt keine einzige soziale Schicht, der es einen Vorteil gebracht hätte, dass so viele arbeitsfähige und aufstiegshungrige Menschen dem eigenen Land den Rücken kehrten. Profitiert haben von dem Massenexodus einzig jene populistischen Haudegen, die auf alle sozialen und ökonomischen Fragen stets nur eine, die nationalistische, Antwort parat haben und ihre Wähler zur national erregten Gemeinschaft zu vereinen wissen. Ihnen verheißen sie glückliche Zeiten der Würde und des Wohlstands, wenn sie nur erst der unliebsamen Seiten der Globalisierung mittels Abschottung Herr geworden sein werden. Während ihm die Ungarn zu Hunderttausenden davonlaufen, gewährt Orbán den Daheimgebliebenen das Glück, ihr Land von Zäunen, Mauern, Selbstschussanlagen umgeben zu wissen.

Solch nationalistischer Aktionismus löst natürlich keines der Probleme, die so viele Ungarn in die Auswanderung treiben. Dennoch ist es falsch, wenn im Westen immer nur der Nationalismus als jene Kraft ausgemacht wird, die Europa zerstören könnte. Denn der Nationalismus ist nicht die Ursache des Übels. Er ist vielmehr dessen übelste Folge.

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Kolumne von Karl-Markus Gauß
Gauß

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Alle Kolumnen von ihm lesen Sie hier.

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