Italienische Literatur:Drei Aperol Spritz und ein gezuckerter Cappuccino

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Jenseits der kleinen Stadt in Kalabrien: Landschaft bei Girifalco. Hier ist der italienische Autor Domenico Dara aufgewachsen.

(Foto: Ugo Mellone/HUBER IMAGES)

Je krisenhafter das reale Italien, desto erfolgreicher seine literarische Idyllisierung: Domenico Daras "Der Postbote von Girifalco".

Von Kristina Maidt-Zinke

Das Lebens- und Selbstwertgefühl der Italiener hat in den letzten Jahren, aus Gründen, die fast jeden Tag in der Zeitung stehen, erhebliche Blessuren erlitten. Proportional dazu ist der Traum von Italien, die einst so zuverlässige Mixtur aus Südsehnsucht, Kulturschwärmerei und Dolce-vita-Fantasien, selbst in deutschen Gemütern spürbar verblasst.

Der 1971 in Kalabrien geborene Lehrer und Schriftsteller Domenico Dara hat schon vor geraumer Zeit erkannt, was seine Landsleute und ihre enttäuschten Liebhaber in dieser Lage dringend brauchen: den fiktionalen Rückzug in ein trostspendendes Italien der Vergangenheit, das es so vielleicht nie gegeben hat, das aber dennoch im kollektiven Gedächtnis etabliert ist, über Jahrzehnte gespeist aus Reiseeindrücken, Filmen, Büchern, Liedern und kulinarischen Reminiszenzen.

Daras im Jahr 1969 angesiedelter Debütroman, der 2014 unter dem Titel "Breve trattato sulle coincidenze" (Kurze Abhandlung über den Zufall) erschien, wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet, von Publikum und Kritik bejubelt. Erst jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor, die "Der Postbote von Girifalco" heißt und sich nur im Untertitel "Eine kurze Geschichte über den Zufall" nennt. Ein kluger Schachzug. Der Briefträger als Held - welcher reifere Leser dächte da nicht an den Film "Il Postino", der vor einem Vierteljahrhundert, mit dem unvergleichlichen Massimo Troisi in der Hauptrolle, auf zwei süditalienischen Inseln gedreht wurde und vergessen ließ, dass die literarische Vorlage von dem Argentinier Antonio Skàrmeta stammte? Girifalco wiederum ist der Name des kalabrischen Bergstädtchens, in dem Domenico Dara aufwuchs, was seine Milieuschilderungen und sein Figurenarsenal zumindest teilweise als authentisch beglaubigt.

Zufälle notiert der Postbote nur, um nachzuweisen, dass es keine Zufälle gibt

Der Autor spielt damit in seiner Nachbemerkung, die gewitzt auf das Romanthema verweist. Nach dem Aufsagen des Sprüchleins, jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen beruhe auf "reinem Zufall", zählt er, als "Ausnahme", knapp zwanzig seiner Figuren auf, die "tatsächlich leben oder gelebt haben". Es kommen, wie ein Verzeichnis am Schluss erhellt, noch mehr als zwanzig hinzu, die frei erfunden sind. Etliche dieser Gestalten sind mehr oder weniger schrullige Typen, die man aus eigener landeskundlicher Erfahrung wiederzuerkennen meint. Die pittoreske Kleinstadt (damals, zum Zeitpunkt der Mondlandung, noch eher ein Dorf) wird zum Kosmos aufgeblasen wie ein bunter Luftballon. Wer Italien mit dem Klischee lebenspraller Opulenz verbindet, kommt hier auf seine Kosten.

Und dann der Postbote, dessen Berufsbild als solches schon das verlorene Paradies der Langsamkeit repräsentiert. Genau wie jener "Postino" ist auch dieser Protagonist ein versponnener Einzelgänger, ein schüchterner Träumer. Aber er besitzt darüber hinaus viele staunenswerte Eigenschaften. Er ist belesen, kennt sich in der griechischen Mythologie aus, kann jede Handschrift perfekt imitieren und philosophiert, sichtlich unter dem Einfluss fernöstlicher Lehren, über den Sinn des Daseins, den verborgenen Faden, der alle Dinge und Wesen miteinander verbindet.

Vom Erkenntnisdrang beflügelt, notiert er Zufälle, nur um nachzuweisen, dass es keinen Zufall gibt. Zwecks Beweisführung aber greift er, der sich nicht traut, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, mit großer Empathie und Tatkraft in das Schicksal seiner Mitmenschen ein. Er öffnet Briefe, verzögert sie, leitet sie um und schreibt notfalls selbst welche, stets auf der Basis gewissenhafter Nachforschungen und mit Hilfe eines liebevoll gepflegten Archivs. Alles soll zum Besseren gelenkt werden, was bisweilen erfordert, traurige Mitteilungen durch hoffnungsvolle zu ersetzen.

Bei den Verwicklungen, denen er durch sein Treiben auf die Spur kommt, handelt es sich vornehmlich um herzzerreißende Liebesgeschichten, nicht zuletzt um seine eigene, die er schon abgeschlossen wähnte. Dass dieser Götterbote und Postillon d'amour in Personalunion auch noch einen korrupten Bürgermeister daran hindert, den Wald auf dem Monte Covello in eine Mülldeponie umzufunktionieren, wirkt dazwischen wie ein minimales Zugeständnis an die italienische Wirklichkeit.

Der (sehr fein übersetzte) Roman enthält Bilder und Beobachtungen, die das Zeug dazu hätten, sich tief einzuprägen, etwa die Szene, in der Dara die täglich auf dem Hauptplatz sich einfindenden Dorfbewohner mit jenen beweglichen Krippenfiguren vergleicht, die in Italien zum Weihnachtszauber gehören: "Die Männer auf der Piazza waren wie der Bäcker, der gegen einen Glückspfennig das Brot in den Ofen schob und es wieder herausholte, sie waren wie der Schmied, der langsam mit dem Hammer auf den Amboss schlug, sie waren wie die Schäfchen, die in einer Höhle verschwanden und gleich wieder herauskamen, sie waren wie der melancholische Komet, der am sternenklaren Himmel aufstieg und wieder herabstürzte."

Leider gehen solche kleinen Perlen unter in einem Erzählstrom, der sich an seinem Überfluss an Metaphern, poetischen Wendungen, malerischen Details und rührenden Einfällen unaufhörlich zu berauschen scheint. Am Ende fühlt man sich, als hätte man drei Aperol Spritz und einen gezuckerten Cappuccino getrunken, und sehnt sich nach einem pechschwarzen, bitteren Caffè, dem "anderen Italien".

Dann kann man auf die Idee verfallen, sich für das reale Girifalco zu interessieren, das in der Region den traditionellen Beinamen "il paese dei pazzi" trägt, "das Dorf der Verrückten". Er bezieht sich zwar auch auf eine Tendenz der Einwohner zum Abseitigen und Kauzigen, in erster Linie jedoch darauf, dass dort im Jahr 1880 in einem ehemaligen Konvent eine der größten psychiatrischen Anstalten Süditaliens eingerichtet wurde - eine Institution, die im Laufe ihrer Geschichte einige dunkle Seiten offenbarte. In Daras Buch wird sie nur beiläufig erwähnt. Der Autor hat seine Verklärung des Ortes zum Idyll unterdessen mit einem zweiten Roman fortgesetzt, für den er den renommierten "Premio Strega" erhielt. Immerhin soll darin ein Verrückter vorkommen.

Domenico Dara: Der Postbote von Girifalco. Roman. Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 477 S., 23 Euro.

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