Tanz:Remix des Körperklangs

Tanz: Eine gezackte, diagonal zwischen Boden und Decke aufgehängte Installation teilt die Spielfläche in zwei Sphären. Die Tänzer werden darauf immer wieder wie architektonische Gebilde organisiert.

Eine gezackte, diagonal zwischen Boden und Decke aufgehängte Installation teilt die Spielfläche in zwei Sphären. Die Tänzer werden darauf immer wieder wie architektonische Gebilde organisiert.

(Foto: Anja Beutler)

Hamburgs Sommerfestival auf Kampnagel endet mit einer glänzenden Uraufführung der Kanadierin Aszure Barton.

Von DORION WEICKMANN

In der Hochsommerhitze verraten offenbar selbst zugeknöpfte Hamburger, was sie sonst lieber für sich behalten. Kurz vor Beginn der Vorstellung auf Kampnagel klagen zwei junge Männer einander ihr Leid mit den Frauen. Der eine hat gerade den Laufpass gekriegt, der andere daheim eine Waschmaschine voller Anzüge vorgefunden, die seine rachedurstige Lebensgefährtin bei 90 Grad gewaschen hat. "Mach doch Mode draus", rät der Freund, "Hochwasser, Super-Slimfit, kurze Ärmel - war alles schon mal da, kommt alles wieder, du musst es nur smart kombinieren!"

Diesem Rezept scheint auch die Uraufführung "# WTF - Where there's form" zu folgen, die das Männergespräch zum Erliegen bringt. Aszure Bartons Kreation ist ein brillanter Remix aus Modern Dance, postmoderner Hochgeschwindigkeitsästhetik und allerlei Tanzmoden zwischen Voguing und Break. Die kanadische Choreografin überschreibt damit nicht nur ein halbes Jahrhundert Tanzgeschichte, sondern streicht schon im Titel heraus, worauf es ihr ankommt: Solange Form und Formbewusstsein existieren, kann Kunst vielleicht ins Kippeln und Schwanken geraten, aber nie völlig entgleisen.

Eine gezackte, diagonal zwischen Boden und Decke aufgehängte Installation teilt die weiße Spielfläche in zwei Sphären. Links vorne steht ein präparierter Flügel in der Tradition von John Cage, mit Schellen, Quasten, Filzobjekten und anderen klangverfremdenden Materialien bestückt. Der Komponist Volker Bertelmann alias Hauschka nimmt daran Platz, nestelt am E-Klangpult herum und hämmert zunächst nur mit einem Finger in die Tastatur. Trotzdem schwillt ein sirrendes Nebengeräusch zum wummernden Techno-Stakkato. Im rechten hinteren Eck der Bühne bezieht die Cellistin Insa Schirmer Stellung. Zwischen die Musiker tritt eine Tänzerin, ganz in Weiß - bis auf die schwarzen Socken, die sich gegen den hellen Untergrund abheben und den arbeitenden Füße außergewöhnliche Plastizität verleihen. Grell fällt das Licht von oben auf Ana Maria Lucacius hingetupfte Körperschwünge, auf ihre locker pendelnden Arme, den geschmeidigen Wechsel von Front- zu Profilposition, die aufsteigende Arabesque und den nach vorne sinkenden Kopf.

Lucacius Solo, von acht weiteren, im Uhrzeigersinn schreitenden Tänzern und Tänzerinnen begleitet, skizziert die choreografische Matrix. Taillenaufwärts strömt die Bewegung in weich fließenden Bögen, taillenabwärts wird sie scharf punktiert. Dabei nimmt die Eckigkeit nie überhand, weil Aszure Barton jeden Impuls an einen Gegenimpuls koppelt. Zuckt das Spielbein wie ein Klappmesser in die Höhe, zuckelt das Standbein in eine leichte Kniebeuge. Fährt ein Arm am Ohr vorbei in die Lotrechte, geht die Schulter mit und bricht die kantige Linie. Streckt der Torso sich kerzengerade empor, kurven die Füße in abenteuerlichen Serpentinen übers Geviert.

"#WTF" bezieht sich nicht zuletzt auf das Zusammen- und Widerspiel der Akteure. Traditionelle Kompositionsmuster werden umgedeutet

Aszure Barton, die auch das Bayerische Staatsballett vor Jahren mit zwei Premieren beehrt hat, gehört zur Handvoll weltweit erfolgreicher Choreografinnen. Anders als ihre Landsfrau Crystal Pite, die sich eine künstlerisch unverwechselbare Signatur zugelegt hat, setzt Barton eher auf Remix und Sampling vertrauter Körperklänge. Man sieht die lässige Eleganz einer Trisha Brown, erkennt die hyperventilierende Schrittdynamik eines William Forsythe, die permutativen Raumfantasien eines Merce Cunningham. Immer wieder werden die Tänzer wie architektonische Gebilde organisiert, kein Haar scheint zufällig abzustehen, kein Finger unmotiviert auszuscheren. "#WTF" bezieht sich nicht zuletzt auf das Zusammen- und Widerspiel der Akteure. Traditionelle Kompositionsmuster werden umgedeutet, so wenn sich zwei Männer auf ballerinenverdächtig hoher halber Spitze duellieren oder den eigenen Körper einer Frau überlassen, die ihn dreht, wendet, stützt, wie es üblicherweise umgekehrt der Fall ist. Solche Revisionen beschwören genderneutrale Utopien, die Barton schmucker zu illustrieren weiß als viele ihrer Kollegen.

Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Tänzer, viele davon langjährige Mitstreiter der Choreografin und mit einzigartiger Allüre gesegnet. Ana Maria Lucaciu wirbelt schwerelos wie eine Feder dahin, Tobin Del Cuore besticht als Allrounder mit pantomimischem Talent, Jake Tribus mit famoser Spann- und Sprungkraft - und Alexander Andison treibt das Geschehen mit dem Einpeitscher-Elan eines Zirkusartisten voran. "# WTF - Where there's form" sitzt perfekt, vom choreografischen Schnitt bis zur semitransparenten Garderobe. Finden auch die zwei jungen Männer, die ihren Liebes- und Anzugkummer achtzig Minuten lang vergessen haben. "Und?", fragt der eine. "Sehr stylish", sagt der andere. Ein mustergültiges Hanseatenkompliment.

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