Filmfestspiele Venedig:Sturz in den Wahnsinn

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Todd Philips erzählt, warum der "Joker" extrem böse wurde, Steven Soderbergh rekonstruiert die Affäre um die Panama Papers - beide Filme eint eine enorme Wut auf die Missstände der Gegenwart.

Von Tobias Kniebe

Für den Festivalchef von Venedig steht jetzt schon fest, wer den Oscar bekommen muss: Joaquin Phoenix für seine verstörend intensive Joker-Performance. (Foto: Warner Brothers)

Sein zwanghaftes Lachen schmerzt in den Ohren, sein dürrer Körper ist kaum anzuschauen, die Qual in seinen Augen haut einen um. Und dann ist da noch dieses unkontrollierte Zittern in den Beinen, dieser Hang zum anfallartigen, entrückten Ausdruckstanz, dieses Flackern von Glamrock, Lampenfieber und nacktem Wahnsinn. Joaquin Phoenix, das wurde am Samstagabend klar, ist ein "Joker" für die Filmgeschichte. Und das will etwas heißen bei dieser Rolle, die schon Heath Ledger zu einer Intensität getrieben hat, hinter der dann nur noch der Tod lauerte.

Diese Figur aus dem Universum der DC-Comics, Erzfeind des Superhelden Batman, hat in dem neuen Film von Todd Phillips etwas Hochpolitisches, ja fast schon systemverändernde Sprengkraft. Und das fügt sich dann gut, dass die beiden am heißesten erwarteten Filme beim Festival von Venedig zugleich die politischsten sind. Der andere ist "The Laundromat", der am Sonntag Premiere hatte, der Versuch von Autor Scott Z. Burns und Regisseur Steven Soderbergh, sich einen Reim auf die weltweiten Enthüllungen der Panama Papers zu machen - aber der Reihe nach.

Alle, die sich der Rolle des Jokers annehmen, scheint diese Figur an ihre Grenzen zu treiben: Schon Jack Nicholson ließ 1989 in Tim Burtons "Batman" alle Sicherungen durchbrennen, was augenzwinkernden Camp betraf, und in eine ähnliche Richtung geht Jared Leto, im Duo mit seiner Gangsterbraut Harley Quinn in "Suicide Squad". Noch mal anders relevant und gefährlich aber wird es, wenn sein volles anarchistisches Potenzial zum Tragen kommt, in den Performances von Heath Ledger und jetzt eben Joaquin Phoenix.

Der neue Joker wirkt wie die meisterhafte Vorgeschichte zu Christopher Nolans "Dark Knight"

Christopher Nolan war es mit seinem "Dark Knight" (2008), der die Figur neu definierte: als Agent des reinen Chaos. Mitten in der globalen Finanzkrise wurde der Joker nicht nur der Feind jeder Ordnung, sondern auch der Hauptfeind des globalen, alternativlos gewordenen Kapitalismus der Superreichen. "Why so serious?" fragte er und demonstrierte, dass es sehr wohl Alternativen gibt, wenn man der Krise ins Gesicht lacht und nichts mehr zu verlieren hat - die Feuerwerke des Untergangs. Erstaunlicherweise traf das beim Publikum weltweit einen Nerv.

Der neue "Joker" (deutscher Kinostart: 10. Oktober), wirkt nun wie die meisterhafte Vorgeschichte dieses Films. An Superschurkentum ist da anfangs gar nicht zu denken - während Gotham im Müllstreik versinkt, nimmt der psychisch schwer gestörte Arthur Fleck, der an krankhaft unmotivierten Lachanfällen leidet, brav seine Medikamente, schlägt sich mit winzigen Werbejobs im Clownskostüm durch und träumt vom Erfolg als Stand-up-Comedian, obwohl nicht einmal seine kranke, delirierende Mutter ihn für lustig hält.

Dies hat mit einer Comicverfilmung, wie man sie bisher kennt, nichts mehr zu tun - es ist die Fallstudie eines Mannes, der wirklich bei jeder Gelegenheit brutal in die Fresse kriegt, in einer Stadt voller Hoffungsloser und aggressiver Bullies. Und der dann eines Tages eine Pistole hat, weshalb die nächsten Bullies in der Subway, drei üble Investmentbankerschnösel, sterben müssen. Die Massen feiern den unbekannten Mörder mit der Clownsmaske, woraufhin der Boss der Getöteten, der Milliardär Thomas Wayne, gleich alle Armen als "Clowns" bezeichnet. Es brodelt in Gotham, plötzlich sind Clownsmasken überall.

Thomas Wayne ist niemand anders als der Vater von Bruce Wayne, des künftigen Batman. Dieser ist hier etwa acht Jahre alt und ein unschuldiges Kind, aber sein alter Herr wird als ein derartiges Schwein gezeigt, dass sich die Sympathiewerte im Batman-Kosmos bedenklich verschieben. Kaum besser ist Murray Franklin (Robert De Niro), ein populärer Talkshow-Host. Als jemand Arthur Flecks gescheiterte Stand-up-Versuche mitfilmt, bringt er sie ins Fernsehen und macht sich darüber lustig. Dann lädt er den Gedemütigten, der seine Show liebt, auch noch in die Sendung ein.

Sagen wir mal so, das hätte er besser nicht getan. Denn das wird nun die eigentliche Geburtsstunde des Jokers - kein zufälliger Sturz in einen Säuretank, wie er früher die Herkunft des Joker-Wahnsinns erklären musste. Dieser Joker ist menschengemacht, er ist auch das Produkt der Budgetkürzungen im Gesundheitswesen, durch die er seine Medikamente verliert, eines durch und durch herzlosen Systems.

Aber all das könnte kaum funktionieren ohne einen Schauspieler, der die Qual dieser Figur in jeder Faser seines Körpers spüren will. Joaquin Phoenix war schon all die Jahre fast zu intensiv, um normale Menschen zu verkörpern, aber hier stürzt er sich in den Wahnsinn und schaut nicht mehr zurück. Man spürt keinen Millimeter Distanz zu den Träumen dieses Arthur Fleck, zu seinen Hoffnungen, seinem Schmerz, seiner Erniedrigung und Wut. Phoenix habe in diesem Film einen "Zustand der Gnade" erreicht, sagt Alberto Barbera, der Festivalchef von Venedig, und sei an Orte gelangt, "wo wenige Schauspieler je hinkommen, wo es verstörend wird. Müsste ich den Oscar vergeben, hätte ich keinerlei Zweifel".

Eine derart zentrale Performance gibt es in Steven Soderberghs "The Laundromat" nicht - dafür aber viele herrliche Miniaturen. Das beginnt schon damit, dass Jürgen Mossack und Ramón Fonseca, die beiden zwielichtigen Anwälte im Herzen der Panama-Papers-Enthüllungen, höchstpersönlich auftreten, gespielt von Gary Oldman und Antonio Banderas. Aber nicht nur das, sie reden direkt mit den Zuschauern, mit starkem deutschen beziehungsweise spanischen Akzent, und erklären ihr Geschäftsmodell wie zwei Entertainer - angefangen beim Geld als solchem und dem Tauschhandel in der Steinzeit, der dann auch gleich mit ein paar Lederschurz-Statisten visualisiert wird.

Ist alles hier also nur eine lustige Farce? Das auch wieder nicht, denn in der nächsten Sequenz sieht man Ellen (Meryl Streep), eine Rentnerin, die mit ihrem Ehemann eine Bootsfahrt auf dem Lake George in New York unternimmt - und ihn dann verliert, als das Boot kentert. Dies ist eine reale Tragödie, und der Film nimmt das Leid durchaus ernst, genau wie den zusätzlichen Tiefschlag, als die Versicherung des Kapitäns nicht bezahlt, weil dahinter eine Scheinfirma steckt. Die Spur führt auf die Karibikinsel Nevis und dann nach Panama, zur Kanzlei Mossack Fonseca.

Derweil fungieren Mossack und Fonseca weiter als Zeremonienmeister - offenbar mit dem Ziel, sich selbst in ein besseres Licht zu rücken, in die Rolle von bloßen Erfüllungsgehilfen. Sie erzählen Geschichten von Verrat und Ehebruch, Geschäftstricks, Erpressung und Mord, die dann gezeigt werden, die alle irgendwie zu ihrer Kanzlei in Panama führen: überdreht wie ein Tarantino-Film, doch sehr vieles, wenn nicht sogar alles ist wahr. So wie der Tod eines Mannes in einem Hotelzimmer in China, der von der Frau des chinesischen Handelsministers Bo Xilai vergiftet wurde - nach einem Disput über Offshore-Geschäfte in Panama, die Bestechungsgelder aus China schmuggeln sollten.

Ellen alias Meryl Steep aber ist ein Opfer, das es genauer wissen will - sie fliegt selbst auf die Karibikinsel, fragt herum, sucht Verbündete in ihrem Kampf. Die findet sie dann auch, als ein Unbekannter die Server von Mossack Fonseca hackt, Tausende Dokumente kopiert und der Süddeutschen Zeitung zuspielt - dies wird kurz in einem Newsclip erzählt, in dem SZ-Journalist Bastian Obermayer über die Herkunft des Materials spricht. Wer dieser Unbekannte war, weiß in diesem Film natürlich auch keiner, aber darüber erlaubt sich Soderbergh am Ende einen kleinen Scherz.

Wenn es so weitergeht, ruft Hollywood demnächst zur großen Revolution auf

"The Laundromat" ist mit dem typischen Soderbergh-Schwung erzählt und äußerst unterhaltsam, was am Ende sein eigentliches Ziel gefährden könnte, die Zuschauer zum politischen Handeln zu motivieren. Kann das alles so wild und verrückt gewesen sein, wie man es hier sieht? Man muss schon fast eine Suchmaschine anwerfen, um die Details zu verifizieren, bevor man es wirklich glaubt. Und doch ist die Botschaft klar: Mossack und Fonseca, die am Schluss ihre Panamahüte aufsetzen und davonstolzieren, sind nicht der wahre Kern des Problems. Die größte Steueroase der Welt sind immer noch die USA, informiert der Abspann, und daran wird sich nichts ändern, bis die Wahlkampffinanzierung reformiert ist - auf in den Kampf!

Gemessen am Willen zum Chaos, das im Herzen des Jokers brennt, plus der Entschlossenheit seiner Anhänger, die Welt in Brand zu stecken und das ganze System zu stürzen, mag ein Aufruf zur Reform des "Campaign financing" in den USA ziemlich zahm wirken. Aber die Stoßrichtung ist im Grunde dieselbe, genau wie die Fassungslosigkeit über die Bullies dieser Welt, die Täuscher und Betrüger, die mit ihren immer dreisteren Taten viel zu oft davonkommen. Steven Soderbergh war schon immer ein linksgerichteter Filmemacher, Todd Phillips kennt man bisher eher von seinen wilden, gänzlich unpolitischen "Hangover"-Komödien.

Jetzt wirken sie auf einmal, als wären sie Teil einer großen Bewegung, als wäre die Wut auf die Missstände der Gegenwart im Herzen des amerikanischen Kinos angekommen - auch dort, wo Blockbuster nach Comicvorlagen produziert werden. Und wenn man dann noch James Gray zuhört, wie er von seinem Film "Ad Astra" abschweift und über den globalen Kapitalismus spricht, staunt man wirklich: "Machen wir uns nichts vor", sagt er. "Auch wir, die wir Filme produzieren, sind Teil eines moralisch vollkommen bankrotten Systems." Wenn Hollywood seine Gesellschaftskritik in diesem Tempo weiter verschärft, sind sie in zwei Jahren bei einem Aufruf zur Revolution, der bei Gotham City nicht mehr haltmachen wird.

© SZ vom 02.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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